Psychische Beeinträchtigungen – eine unterschätzte Unfallfolge
„Die Vision Zero ist das Bild einer Zukunft, in der niemand im Straßenverkehr getötet oder so schwer verletzt wird, dass er lebenslange Schäden davonträgt.“ Diese bis heute gültige Definition der Vision Zero aus Schweden schließt auch die Unfallfolgen mit ein, die bei den Unfallbeteiligten seelische Narben hinterlassen und nicht mit bloßem Auge erkennbar sind. Die medizinische Versorgung körperlicher Verletzungen von Verkehrsunfallopfern erfolgt in der Regel zeitnah und zuverlässig noch an der Unfallstelle. Psychologische Fremdhilfe für die Unfallbeteiligten ist hingegen nicht immer gewährleistet. Beteiligte sind dabei die Verunglückten, aber auch die mittelbar Betroffenen wie Ersthelfende, Angehörige oder Zeuginnen und Zeugen.
Kontrollverlust nach Unfall
Die überwiegende Anzahl der Betroffenen ist in der Lage, die akut eintretenden Belastungsreaktionen selbstständig zu bewältigen. Dabei ist nicht nur das Ausmaß des Unfalls von Bedeutung. Auch die Situation, in welcher der Unfall geschieht, spielt eine große Rolle. Unfallopfer spüren oft einen Kontrollverlust oder fühlen sich ausgeliefert. Ersthelfende erleben Hilflosigkeit, wenn sie zusehen müssen, wie beispielsweise ein Kind verstirbt. Nicht allen gelingt es, das Unfallereignis zu verarbeiten.
Die zunächst eingetretenen Belastungsstörungen, wie unter anderem ein Gefühl der Betäubung oder der Unwirklichkeit, Konzentrationsschwächen, Unruhe oder Ärger, die in der Regel nach Tagen oder Wochen wieder verschwinden, können sich aber auch auf der Seele festsetzen. Dabei sind psychische Beeinträchtigungen oftmals schwer zu erfassen, da sie auch mit Verzögerung eintreten können. Zu den häufigsten psychischen Erkrankungen infolge von Verkehrsunfällen gehören Fahrphobien, wobei die Betroffenen Angst haben, mit dem Auto, dem Fahrrad oder dem Lkw wieder am Straßenverkehr teilzunehmen. Wenn das belastende Unfallereignis in Form von Träumen oder Flashbacks bei gleichzeitigem Gefühl der Betäubung wiederbelebt wird, steckt vermutlich eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) dahinter. Depressive Störungen liegen vor, wenn die Betroffenen eine gedrückte Stimmung aufweisen, antriebslos werden und ihr Interesse an Freunden und Arbeit verlieren und sich abkapseln. Aber auch Anpassungsstörungen, die mit dem Gefühl einhergehen, ständig überfordert zu sein, weisen darauf hin, dass das Unfallereignis nicht verarbeitet werden konnte.
BASt-Studie über Schwerverletzte
Wie viele Betroffene eine psychische Erkrankung infolge eines Straßenverkehrsunfalls in Deutschland entwickeln, ist nicht bekannt. Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) ermittelte in einer Studie, dass jeder vierte der befragten Schwerverletzten, die sich zur stationären Behandlung in einem Krankenhaus befanden, unter psychischen Beeinträchtigungen wie Angst, Depressionen oder einer PTBS litt.
Im Rahmen des EU-Projektes REHABIL zeigte sich, dass bei rund einem Drittel aller Intensivpatienten, die ein Polytrauma erlitten hatten, noch eineinhalb Jahre nach dem Unfallereignis psychische Langzeitfolgen in Form von Depressionen und PTBS auftraten. Personen, die sich der Unfallsituation hilflos ausgesetzt erlebten, psychisch vorbelastete Personen sowie Kinder und Jugendliche, die noch nicht über Bewältigungsressourcen verfügen wie Erwachsene, sind dabei besonders gefährdet.
Professionelle Hilfsangebote
Die Vermeidung und Bewältigung von psychischen Unfallfolgen hängt wesentlich von der angemessene und zeitnahen Hilfe ab. Durch einen frühzeitigen Zugang zu niederschwelligen professionellen Hilfsangeboten kann verhindert werden, dass psychische Erkrankungen entstehen und sich verstetigen. Trotz der Vielzahl von Institutionen, die Versorgungsangebote für psychisch belastete Menschen anbieten, gibt es laut einer weiteren Untersuchung der BASt – „Versorgung psychischer Unfallfolgen“ – kaum Angebote, die auf die psychischen Beeinträchtigungen infolge von Straßenverkehrsunfällen spezialisiert sind. Eine unübersichtliche Versorgungslandschaft erschwert es den Laien, sich adäquat zu informieren. Die teils lange Suche nach einem Therapieplatz erweist sich für die Betroffenen als belastend und führt zu einer Verzögerung des Therapiebeginns.
Rehabilitation nach Wegeunfällen
Dies haben die gesetzlichen Unfallversicherungsträger bereits erkannt und stellen auch bei psychischen Folgen von Arbeits- und Wegeunfällen eine geeignete Behandlung und Rehabilitation sicher. Grundlage ist das bereits 2012 eingeführte Psychotherapeutenverfahren. Die professionelle psychotherapeutische Versorgung kann bereits bei unspezifischen psychopathologischen Auffälligkeiten, bei Verdacht auf klinisch relevante Unfallfolgebeschwerden oder bei besonderen Risikofaktoren im Rahmen von fünf sogenannten probatorischen Sitzungen, eingeleitet werden. Die an dem Verfahren beteiligten Ärzte und Psychotherapeuten müssen über Fachkenntnisse in der leitliniengerechten Diagnostik und Behandlung von typischen Störungen nach Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten verfügen, vertiefende praktische Erfahrungen in der Behandlung entsprechender Belastungs- und Folgestörungen sowie definierte traumabezogene Fortbildungen nachweisen können. Entscheidend für eine erfolgreiche Behandlung ist eine Betreuung, die bereits unmittelbar nach dem traumatischen Ereignis einsetzt.
Ein vergleichbarer Zugang zu professionellen Hilfsangeboten sollte jedoch allen Unfallbeteiligten zur Verfügung stehen. Im Hinblick auf ihr Recht auf ine zeitnahe Behandlung bedarf es hier unabhängig vom Kostenträger einer zügigen Zuweisung der Betroffenen zu einem angemessenen Therapieoder Beratungsangebot.
Projekt „Hilfefinder“
Mit dem Ziel, die Auffindbarkeit von Informationen für die Betroffenen zu verbessern, hat die BASt daher gemeinsam mit der Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland (VOD) und dem DVR die Webseite www.hilfefinder.de eingerichtet. Der Hilfefinder ermöglicht Betroffenen, nach Institutionen in ihrer Nähe zu suchen, die schnelle Hilfe anbieten können. Dort können sie sich zudem über weitere Themen informieren, wie beispielsweise über Behandlungsmethoden, rechtliche Aspekte oder aktuelle Forschungsprojekte. Mithilfe eines Selbst-Checks können sie darüber hinaus zunächst selber feststellen, ob ihre psychischen Beeinträchtigungen einer professionellen Behandlung bedürfen.
DVR-Beschluss
Mit einem Beschluss des Vorstandes untermauert auch der DVR die Notwendigkeit, psychische Unfallfolgen in die Verkehrssicherheitsarbeit zu integrieren und die Zusammenarbeit und den Austausch darüber auf allen Ebenen zu verstärken: Neben der Verbesserung der allgemeinen Versorgung psychischer Erkrankungen aufgrund von Straßenverkehrsunfällen und der Etablierung eines Verfahrens, ähnlich dem der gesetzlichen Unfallversicherungsträger, fordert der DVR eine umfassende Aufklärung, Aus- und Fortbildungen für Ersthelfende, Polizei, Klinikpersonal, Hausärzte und Hausärztinnen sowie pädagogische Fachkräfte, die die Besonderheit psychischer Unfallfolgen thematisieren und damit die entsprechende Sensibilität erhöhen. Mit dem Ziel, die Dimension der psychischen Unfallfolgen zu erfassen, die besonders gefährdeten Personen zu identifizieren und die Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit zu ermitteln, sollten darüber hinaus Forschungsprojekte initiiert werden.