Juristische Fachkonferenz 2020 - Aktuelle Rechtsfragen zur Verkehrssicherheit

Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie fand die 6. Juristische Fachkonferenz des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) am 23.09.2020 erstmals digital über einen Livestream und live vor Ort statt. So konnten Juristinnen und Juristen sowohl online als auch offline u.a. über die Themen Pop-up-Radwege, Raser und der Aufklärung von Unfällen diskutieren.

Fahrverbote und andere Verkehrserziehungsmaßnahmen

Dr. Benjamin Krenberger, Richter am Amtsgericht Landstuhl, erläuterte das juristische Prüfschema und den Ermessensspielraum bei der Anordnung von Fahrverboten in Bußgeldsachen. Dabei machte er deutlich, dass die Teilnahme an Erziehungsmaßnahmen wie z. B. Verkehrserziehungskursen oder Fahrsicherheitstrainings in der tatrichterlichen Prüfung in bestimmten Fällen berücksichtigt werden können. Die Teilnahme an einer solchen Maßnahme stelle keine Ersatzsanktion für ein Fahrverbot dar, sondern einen nachhaltigen Beitrag zur Herstellung der Verkehrssicherheit, der größer sein könne als bei einem Fahrverbot und einem Bußgeld. Denn letztere lösten im Zweifel Trotzreaktionen aus und nicht die erforderliche Einsicht in das Verkehrsfehlverhalten.

Rechtsgrundlage von Pop-up-Radwegen

Die aktuellen Streitfragen rund um die rechtliche Umsetzung von Pop-up-Radwegen beleuchtete Charlotte Heppner, Volljuristin und Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin, im Gespräch mit Stefan Grieger, dem Leiter des Hauptstadtbüros des DVR. Mithilfe einer straßenverkehrsrechtlichen Anordnung auf Grundlage von § 45 Abs. 1 Satz 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO) in Verbindung mit Abs. 9 Satz 1 und Satz 4 Nr. 3 habe die Berliner Senatsverwaltung die Pop-up-Radwege zügig anordnet. Aktuell seien die Senatsverwaltung und das Verwaltungsgericht in einem laufenden Verfahren jedoch unterschiedlicher Ansicht, was einerseits die Begründungspflicht einer verkehrsbezogenen Gefahr für die Anordnung angehe und andererseits die Qualität der erforderlichen Begründung im konkreten Einzelfall, z. B. die Notwendigkeit, Unfallstatistiken hinzuzuziehen. Dazu habe die Senatsverwaltung nun die Möglichkeit, ihre bisherigen Begründungen zu ergänzen.

In Hamburg gehe die Behörde für Verkehr und Mobilitätswende einen anderen Weg und beruft sich bei der Einrichtung eines ersten Pop-up-Radwegs auf den Erprobungsparagraphen der StVO, § 45 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6. Diese Anordnung gelte jedoch bislang nur temporär, wohingegen die Berliner Verwaltung dauerhafte Radwege anstrebe.

Beim Gespräch wurde deutlich, dass § 45 StVO mitunter schwer verständlich sei und gerade mit Blick auf die Notwendigkeit, bei der Anordnung von Radverkehrsanlagen eine qualifizierte oder konkrete Gefahrenlage zu begründen, außerdem sehr komplex. Eine Reform sei sicher sinnvoll.

Die Krux mit der „Raser-Absicht“

Dr. Matthias Quarch, Vorsitzender Richter am Landgericht Aachen, stellte die Probleme bei der Anwendung des § 315 d Strafgesetzbuch (StGB) in Fällen von Einzelrasern vor. Seit Oktober 2017 kann mit dem sogenannten Raser-Paragraf die Teilnahme an illegalen Kraftfahrzeugrennen nicht mehr nur als Ordnungswidrigkeit, sondern auch als Straftat geahndet werden. Im Fall von Einzelrasern bleibe aber auf Grundlage von § 315 d Absatz 1 Nr. 3 weiterhin unklar, unter welchen Voraussetzungen die Schwelle zur Straftat überschritten werde; deshalb sei die Norm nicht gelungen. Besonders problematisch sei dabei der Nachweis der „Raser-Absicht“, also des Ziels, eine relative höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Nach Ansicht von Dr. Quarch liege diese „Raser-Absicht“ nur vor, wenn es das Hauptziel des Rasers sei, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Bei einer Flucht vor der Polizei oder beim möglichst schnellen Ausliefern von Pizza sei dies in der Regel nicht der Fall, wenn man die Norm eng und damit verfassungskonform auslege. Aktuell prüfe das Bundesverfassungsgericht, ob § 315 d Absatz 1 Nr. 3 gegen das Bestimmtheitsgebot verstoße und damit verfassungswidrig sei.

Technischer Nachweis verbotener Kfz-Rennen

Andreas Winkelmann, Abteilungsleiter für verbotene Kraftfahrzeugrennen bei der Amtsanwaltschaft Berlin, sieht ebenfalls große Schwierigkeiten beim Nachweis der „Raser-Absicht“. Die Strafverfolgungsbehörden stünden vor der Herausforderung, dem Einzelraser ein rennhaftes Verhalten nachzuweisen, indem sie belegten, dass ein Fahrzeug im sogenannten situationsbedingten „Geschwindigkeitsgrenzbereich“ bewegt worden sei. Das sei der Bereich, in dem ein Fahrzeug z. B. „aus der Kurve fliege“. Durch subjektive Zeugenaussagen allein lasse sich kein sicherer Nachweis für die „Raser-Absicht“ erbringen. Für die Ermittlungen sei deshalb zusätzlich der Zugang zu Daten aus dem Ereignisdatenspeicher (Event-Data-Recording, EDR), zu Daten von Assistenzsystemen sowie GPS-Daten der häufig für Rennen verwendeten Mietfahrzeuge nötig. Die Mitwirkungsbereitschaft der Fahrzeughersteller und Zulieferer an der Daten-Auslesung sei sehr unterschiedlich; in Berlin sei es jedoch angesichts der Vielzahl an Verfahren inzwischen deutlich besser geworden. Nach § 95 StPO seien die Fahrzeughersteller eigentlich zur Mitwirkung verpflichtet.

Als Vorschläge, um Raser zu stoppen, wurden vom Publikum in einer Abfrage u.a. ein Stufenführerschein, Infrastrukturmaßnahmen, Fahrzeugdrosselung, mehr Verkehrsüberwachung und konsequente Ahndung der Raser sowie das Thema Fahrzeugdaten genannt.

Digitale Spuren bei der Unfallaufklärung

Laut Rüdiger Wollgramm, Leitender Polizeidirektor a.D., gebe es z. B. aufgrund der Bremssysteme und proaktiven Fahrerassistenzsysteme nicht mehr ausreichend Spuren am Unfallort, seien Zeugenbeobachtungen schwieriger geworden und es stelle sich die Frage, ob Mensch oder Maschine den letzten Impuls für den Unfall gegeben habe. Somit seien die digitalen Fahrzeugdaten für die Unfallaufnahme zwingend erforderlich.

Der Unfallsachverständige Dr. Michael Weyde erläuterte das Erfordernis bestimmter Mindestdatensätze des EDR am Beispiel der Fahrzeuggeschwindigkeit. Die US-Anforderungen an EDR reichten hier nicht aus und seien nicht mehr auf dem Stand der Technik. Deshalb müssten die UNECE- bzw. EU-Anforderungen weiter gehen. Nur wenn im EDR vollständige und richtige Daten vorhanden seien, könne Rechtssicherheit gewährleistet werden. Die Daten rund um ein Ereignis würden sowieso erzeugt, sie müssten aber auch gespeichert werden.

Klaus Böhm von der Technischen Hochschule Ingolstadt und DEKRA-Sachverständiger plädierte für eine wissenschaftsbasierte, standardisierte Lösung zur Speicherung von Fahrzeugdaten, die nun politisch umgesetzt werden müsse: ein Ereignisdatenspeicher aus Sicht der Unfallanalytiker (Forensic EDR). Eine Cloud-Lösung sei für einen schnellen Datenzugriff am besten, bei der nur speziell zertifizierte Sachverständige Zugriff auf die Fahrzeugdaten bekämen (Trust Center). Auf Basis der Daten könne dann eine hochwertige Unfallanalyse einschließlich Vermeidbarkeitsszenarien erstellt werden. So würden die vorhandenen Daten der ganzen Gesellschaft zur Unfallvermeidung zugutekommen.

Podiumsdiskussion über die Verwendung von Fahrzeugdaten

In der anschließenden von Prof. Dr. Dieter Müller, dem Vorsitzenden des Juristischen Beirats des DVR, geleiteten Podiumsdiskussion waren sich die drei Diskutanten einig, dass die Fahrzeugdaten letztlich den Geschädigten zur Verfügung stehen müssten, um Opferschutz zu ermöglichen. Nur so könne Rechtssicherheit hergestellt und Unfallopfern zu ihrem Recht verholfen werden. Es sei wichtig, die Kongruenz der Spurenlage vor Ort und die digitalen Fahrzeugdaten in Einklang zu bringen. Beide Komponenten seien wichtig, um vor Gericht zu überzeugen.

Eine Treuhandlösung würde den Fahrzeugherstellern helfen, ihre Unschuld bezüglich eines Unfalls mit einem autonom fahrenden Kfz nachzuweisen. Dies sei nur mit unabhängigen Daten möglich. Beweismittel müssten deshalb auf einem neutralen Server gespeichert werden. Zudem sei abzusehen, dass künftig viele Verfahren mit Datenbedarf auf die Gerichte zukommen würden. Hier gelte es, schnell eine praktikable Lösung zu finden.

Fazit der Juristischen Fachkonferenz

Prof. Dr. Dieter Müller zog abschließend ein positives Fazit. Bei allen komplexen Fragestellungen der Konferenz habe die Verkehrssicherheit als gemeinsames Anliegen im Mittelpunkt gestanden. Auch wenn die Technik heute eine andere Rolle spiele als in der Vergangenheit, sitze das Hauptproblem immer noch hinter dem Lenkrad. Deshalb sei die Erhöhung der Verkehrssicherheit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der man nur im Zusammenspiel von DVR-Mitgliedern, Justiz, Polizei, Verwaltung, Gesetzgebung, Öffentlichkeit und Medien gerecht werden könne.

Die Juristische Fachkonferenz 2020 in der Bildergalerie