Sichere Nutzung assistierter Fahrfunktionen (Level 2)
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- Zukunftstechnologien
- 2025
Vorstandsbeschluss vom 15.10.2025 auf Basis der Empfehlungen des Vorstandsausschusses Fahrzeugtechnik
Einführung
Fahrerassistenzsysteme (FAS) wie Notbremssysteme, Spurhalteassistenten oder auch das Elektronische Stabilitätsprogramm (ESP) sind mittlerweile unverzichtbare Bestandteile moderner Fahrzeuge. Sie erhöhen nachweislich die Verkehrssicherheit. Assistierte Fahrfunktionen hingegen sind Komfortfunktionen. Insbesondere Level-2-Fahrfunktionen gewinnen mehr und mehr an Bedeutung in der Fahrzeugflotte. Level-3-Systeme sind nicht Gegenstand der Empfehlungen des vorliegenden Papiers.
Assistierte Fahrfunktionen (Level 2) können seit 2018 mithilfe der UN-Regelung Nr. 79 homologiert werden. Sie übernehmen sowohl die Quer- als auch die Längsführung (Automatically Commanded Steering Function, ACSF B11 in Kombination mit einem Abstandsregeltempomat, ACC) des Fahrzeugs. Sie regeln beispielsweise auf der Autobahn gleichzeitig die Spurführung und den Abstand zum Vorausfahrenden. Der Fahrende muss die Fahraufgabe dauerhaft überwachen, was durch die „Hands-on“-Erkennung sichergestellt wird. Sie sind sowohl auf Autobahnen, Landstraßen als auch innerorts nutzbar. Da ihre sichere Funktion auch von der Qualität der vorhandenen Fahrbahnmarkierungen und den Kurvenradien abhängt, ist die Autobahn der naheliegendste Einsatzbereich dieser Systeme.
Seit 2024 können höher entwickelte Level-2-Fahrfunktionen durch die UN-Regelung Nr. 171 homologiert werden. DCAS (Driver Control Assistance Systems) unterliegen im Vergleich zu Level-2-Systemen nach UN-Regelung Nr. 79 höheren Anforderungen, bei denen z.B. zusätzlich zur Hands-on Erkennung am Lenkrad auch die Blick- und Kopfbewegung als Indikator für die Fahrereinbindung in die Fahraufgabe vorgeschrieben wird. In einer zweiten Stufe ab Ende 2025 soll die DCAS nach UN-Regelung Nr. 171 auch systeminitiierte Manöver sowie „Hands-off“-Anwendungen auf der Autobahn sowohl für Pkw als auch für Lkw (d.h. Systeme zur freihändigen Bedienung) erlauben. In einem möglichen zukünftigen Schritt ist auch die Ausweitung der Nutzung auf den suburbanen Bereich in Diskussion bei der UNECE.
Grundsätzliche Gemeinsamkeit beider Level-2-Systeme bleibt das Halten der Fahrspur und des Abstandes zum Vorderfahrzeug mit kontinuierlicher Überwachung der Fahraufgabe durch den Fahrer. DCAS (R171) fügen dieser Grundfunktionalität noch weitere Komfortaspekte in Form von assistierten Fahrmanövern (Überholen, etc.) hinzu. Unter anderem deshalb wird mitunter auch (fälschlicherweise) von L2+ Systemen gesprochen. Für Fahrende ist (z.B. durch Kontroll-Icons) nicht zu unterscheiden, ob es sich um Systeme nach R79 oder R171 handelt. Zur Homologation von Level-2-Systemen können die UN-Regelungen Nr. 79 (für Einzelsysteme) und Nr. 171 (für das Gesamtsystem, DCAS) parallel genutzt werden. Systeme nach R79 sind bereits im Feld verbreitet.
Trotz dieser assistierten Fahrfunktion bleiben die Fahrenden in beiden Fällen weiterhin in der Verantwortung und müssen das System ständig überwachen. Das unterscheidet sie von Level-3-Systemen (z.B. Staupilot), bei denen die Fahraufgabe bei systemseitig geprüfter Verfügbarkeit innerhalb der Domäne vom System übernommen wird und der Fahrende sich währenddessen anderen Aufgaben widmen kann. Das L3-System, übernimmt für diese Zeit die Fahraufgabe vollständig und erfordert keine parallele Kontrolle der Verkehrsumgebung durch die Fahrenden.
DCAS können bei regelkonformer Entwicklung und Nutzung einen positiven Effekt auf die Verkehrssicherheit haben. Durch die Einhaltung der vorgegebenen Geschwindigkeiten und Sicherheitsabstände unterstützt DCAS zudem das defensive Fahren.
Studien zu DCAS-ähnlichen L2-Systemen, wie sie heute bereits in den USA verfügbar sind, deuten nicht auf erhöhte Sicherheitsrisiken im Vergleich zu klassischen „Hands-on“-Funktionen hin2. Aspekte, wie bspw. kooperatives Lenken, Verhaltensanpassungen an Hands-Free-Funktionen, „Mode-Confusion“ (d.h. Unklarheit darüber, in welchem Fahrmodus bzw. Automatisierungslevel sich das System befindet), fehlendes Situationsbewusstsein, etc. könnten im Vergleich zum manuellen Fahren aber auch negative Effekte auf die Verkehrssicherheit haben, die heute noch nicht quantifizierbar sind. Potenzielle Risiken müssen daher vor und nach Inverkehrbringung neuer Systeme kritisch verfolgt und ggf. behoben werden.
Empfehlungen
Zur Erhöhung der Verkehrssicherheit schlägt der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) e.V. dem Bundesverkehrsministerium und den Fahrzeugherstellern die Umsetzung folgender Maßnahmen vor:
1. Der DVR empfiehlt eine Förderung der Marktdurchdringung von DCAS-Systemen nach UN-Regelung Nr. 171.
2. Damit die im Fahrzeug vorhandenen Systeme im Sinne der Verkehrssicherheit auch genutzt werden, muss deren Akzeptanz im Rahmen entsprechender Öffentlichkeitskampagnen des Bundesverkehrsministeriums erhöht sowie die Verantwortung der Fahrzeugführenden aufgezeigt werden. Sie müssen sich ihrer Verantwortung bei der Nutzung assistierter Fahrfunktionen sowie möglicher Randbedingungen, bei denen die Systeme nicht genutzt werden sollten (z.B. unzureichend ausgebaute Landstraßen, urbaner Bereich), bewusst sein.
3. Den Fahrenden muss durch die Fahrzeughersteller, unabhängig davon, welches Fahrzeug sie nutzen, auf leicht verständliche Weise die Rolle der fahrenden Person bei Level-2-Systemen (insbesondere DCAS) in klarer Abgrenzung zu Level-3-Systemen, der Aktivierungsstatus dieser Systeme sowie das Erreichen von Systemgrenzen kommuniziert werden. Die Informationen und/oder Warnmeldungen dürfen zudem nicht zur Ablenkung oder Überforderung der Fahrenden führen.
4. Der DVR weist darauf hin, dass DCAS eine sichere Systemgestaltung fördert. Die Fahrzeughersteller werden aufgefordert, eine Sicherheitsbetrachtung (beispielsweise nach ISO 21448) durchzuführen, um Risiken, welche sich etwa aus der zunehmenden Fahrzeugautomatisierung ergeben könnten, wirksam zu vermeiden und die Wirksamkeit des Gesamtsystems im Verkehr mit geeigneten Methoden zu beurteilen.
5. Das Bundesverkehrsministerium sollte sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass die für die Rekonstruktion von Unfällen sinnvollen Daten von Level-2-Systemen auch durch den Event Data Recorder (EDR) erfasst werden (z.B. Aktivitätsstatus des Systems insbesondere im Vorfeld einer Kollision). Die Ausgestaltung dieser Erweiterungen im Rahmen der europäischen General Safety Regulation sollten in Ergänzung zu den im Rahmen der UN-Regelung Nr. 171 (DCAS) verankerten Anforderungen3 erfolgen.
6. Darüber hinaus ist es aus Sicht der Unfallforschung und -rekonstruktion unerlässlich, datenschutzkonform auch Ort, Datum und Uhrzeit eines Ereignisses sowie die vollständige Fahrzeugidentifikationsnummer (VIN) im EDR zu erfassen.
7. Es bedarf weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen zu möglichen Veränderungen des Fahrerverhaltens bei längerfristiger Nutzung von L2-Systemen, insbesondere im Vergleich unterschiedlicher Bausteine zur Einbindung der Fahrenden (z.B. kooperative, motorische oder visuelle Einbindung) sowie des Einflusses auf die Verkehrssicherheit.4 5 Solche Forschungsprojekte sollten durch die öffentliche Hand gefördert werden.
8. Um die funktionalen Anforderungen der DCAS-Systeme über die Lebensdauer des Fahrzeugs zu gewährleisten, müssen der Ausfall der Systeme, Indikatoren für mögliche sicherheitskritische Vorkommnisse und die jeweilige Software-Identifikationsnummer (R171 SWIN6) über die elektronische Fahrzeugschnittstelle festgestellt werden können.
Der DVR empfiehlt dem Bundesverkehrsministerium, sich bei der Europäischen Kommission dafür einzusetzen, neben den Anforderungen an ein „In-Service-Monitoring und Reporting“ Vorschriften für den Zugang zu entsprechenden Daten für hoheitliche Zwecke zu definieren.
Darüber hinaus wird vorgeschlagen, die für die Überwachung sicherheitskritischer Vorkommnisse aufzunehmenden Daten berechtigten Dritten für unabhängige Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen.
Erläuterungen
Erläuterung zu Punkt 1:
Nach Inkrafttreten der DCAS-Regulierung UN-Regelung Nr. 171 bestehen zwei Möglichkeiten, assistierte Systeme für neue Fahrzeuge zu homologieren. Es können entweder die Einzelfunktionen des Level-2-Systems nach UN-Regelung Nr. 79 oder das DCAS als Gesamtsystem nach UN-Regelung Nr. 171 zugelassen werden.
Erläuterung zu den Punkten 2 und 3:
Für die Fahrenden muss deutlich erkennbar sein, wenn ein System abgeschaltet wird oder eine Systemgrenze erreicht wurde und was dies in dieser Situation für den Fahrenden bedeutet bzw. welche Verpflichtungen für diesen damit einhergehen. Technisch muss gewährleistet sein, dass die Fahrenden auch in diesen Fällen sicher mit dem Fahrzeug interagieren und „Mode Confusion“ beim Nutzenden vermieden wird.
Dazu müssen einerseits bestehende Berührungsängste und Unwissenheit abgebaut, andererseits jedoch falschen Erwartungen vorgebeugt werden. Den Nutzenden muss die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Systeme klar und transparent kommuniziert werden. Die Fahrzeugführenden sollten bereits vor Fahrtantritt mit der Funktionalität der Systeme, den Systemgrenzen und dem Rollenverständnis bei assistierten Fahrfunktionen in Abgrenzung zu Level-3-Systemen vertraut sein.
Darüber hinaus sollten die Fahrenden auch mögliche bauartbedingte Systemgrenzen berücksichtigen. So fallen Anhängefahrzeuge der Klasse O bspw. nicht in den Anwendungsbereich der UN-Regelung Nr. 171. Da die Sensorik des Anhängefahrzeugs vom Zugfahrzeug abgekoppelt ist und für die Fahrzeugklasse M1 keine standardisierte Schnittstelle existiert, ist der rückwärtige Bereich dadurch u.U. für die Systeme nicht oder nur schwer einsehbar. Auch für Anbauteile, wie z.B. Fahrradheckträger, können Einschränkungen gelten, durch welche die L2-Funktionen nicht verfügbar sind.
Erläuterung zu Punkt 4:
Risiken bspw. durch eine unklare Verantwortungsverteilung oder übermäßiges Automatisierungsvertrauen müssen für die jeweilige spezifische Funktion bewertet werden. Wo notwendig, können dann Maßnahmen wie etwa eine angepasste Fahrerüberwachung oder eine kooperative Auslegung der Funktion die bewerteten Risiken weiter reduzieren.
Erläuterung zu Punkt 5 und 6:
Die Erfassung sicherheitsrelevanter Systemfehler von Level-2-Systemen im EDR ist notwendig, um nach einem Unfall aufklären zu können, ob ggf. technisches Versagen, Fehlfunktionen o.ä. zum Ereignis beigetragen haben könnten. Die aufgezeichneten Daten können außerdem die Unfallforschung verbessern und wichtige Informationen für die Weiterentwicklung der Systeme und gesetzlicher Anforderungen liefern. Die Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Systemfehlern können zudem dazu beitragen, das Vertrauen der Nutzer in die Zuverlässigkeit der Systeme zu erhöhen.
Ort, Datum und Uhrzeit eines Unfallereignisses sind wesentliche Informationen zur Rekonstruktion eines Unfalls und daher essenziell für die Unfallforschung. Diese Informationen liefern den notwendigen Kontext des Unfallhergangs und ermöglichen die Identifizierung von Mustern. Das trägt auch zur Entwicklung verbesserter Sicherheitsmaßnahmen und Technologien bei.
Erläuterung zu Punkt 8:
Fehlfunktionen von assistierten Fahrfunktionen bergen ein hohes Sicherheitsrisiko. Um das Verkehrssicherheitspotenzial dieser Fahrfunktionen vollständig auszuschöpfen und Gefahren für die Gesellschaft vermeiden zu können, müssen sie wie vom Hersteller vorgesehen funktionieren und regelmäßig durch neutrale Dritte überprüft werden können. Dazu muss die Untersuchung der Sensoren und Systeme sowie die Zulässigkeit und Integrität der Software durch Nutzung einer elektronischen Fahrzeugschnittstelle gewährleistet sein. Zusätzlich ist die Durchführbarkeit einer Funktions- und Wirkungsprüfung der Systeme sicherzustellen.
gez.
Manfred Wirsch
Präsident
[1] Die UNECE unterteilt automatische Lenkfunktionen (ACSF = Automatically Commanded Steering Function) in die Unterkategorien A bis E. B1: Spurhaltesysteme, welche eine Bestätigung des Fahrenden benötigen (Hands-On Spurhaltesystem), C: Spurwechselsysteme, welche vom Fahrenden aktiviert werden
[2] Josten, J., Seewald, P., Eckstein, L., Bengler, K. (2023): Level 2 hands-off - Recommendations and guidance. FAT-Schriftenreihe 369; Berlin (VDA)
[3] UN-Regelung Nr. 171, Kapitel 7: Überwachung des DCAS-Betriebs, einschließlich Anhang 3
[4] Mueller, Alexandra S., Gershon, Pnina, et. al. (2024): Finding windows of opportunity: how drivers adapt to partial automation safeguards over time. IIHS
[5] Reagan, Ian J., Cicchino, Jessica B., et. al. (2024): Rinse and repeat: behavior change associated with using partial automation among three samples of drivers during a 4-week field trial, IIHS
[6] „Rx-Software-Identifikationsnummer (RXSWIN)“ bezeichnet eine vom Fahrzeughersteller festgelegte spezielle Kennung zur Darstellung der typgenehmigungsrelevanten Software des elektronischen Steuersystems, die zu den typgenehmigungsrelevanten Merkmalen des Fahrzeugs nach Maßgabe der UN-Regelung Nr. 171 gehört.