Beschluss

Einführung von MAIS 3+ in die Unfallstatistik

Vorstandsbeschluss vom 15.10.2025 auf Basis der Empfehlungen des DVR-Vorstandsausschusses Verkehrsmedizin
15.10.2025
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Beschluss

Einführung von MAIS 3+ in die Unfallstatistik

Vorstandsbeschluss vom 15.10.2025 auf Basis der Empfehlungen des DVR-Vorstandsausschusses Verkehrsmedizin

Vorstandsbeschluss vom 15.10.2025 auf Basis der Empfehlungen des DVR-Vorstandsausschusses Verkehrsmedizin

Einführung

Im Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung 2021-2030 heißt es, dass das Verkehrsministerium plant, „den Prozess für die Erfassung von Unfalldaten von Schwerverletzten (MAIS 3+1) neu anzustoßen“ mit dem Ziel eines gemeinsamen Vorgehens von Bund und Ländern, um der Vision Zero gerecht zu werden.

Diese Erklärung wird vom DVR begrüßt, der im Einklang mit der EU-Kommission seit 2012 fordert, innerhalb der Kategorie "Schwerverletzte" in der deutschen Unfallstatistik die Unterkategorie potenziell lebensgefährlich Verletzte (MAIS 3+) zu erheben und durch den Verletzungsschweregrad „MAIS 3+“ zu definieren. Denn so würde eine Kompatibilität mit den auf EU-Ebene definierten Schwerverletzten („seriously injured“) erreicht. Die amtliche Verkehrsunfallstatistik in Deutschland definiert „Schwerverletzte“ als Unfallopfer, die unmittelbar nach dem Unfallereignis für 24 Stunden oder länger stationär behandelt werden. Der MAIS beschreibt hingegen – auf einer von MAIS 1 bis MAIS 6 reichenden Skala – die anatomische Gesamtverletzungsschwere einer Person. Bei Verletzungsschweren des Grades MAIS 3 und höher steigt die Sterblichkeit sprunghaft bzw. sind langfristige gesundheitliche Beeinträchtigungen zu erwarten. Mit der Einführung des Merkmals „MAIS 3+“ innerhalb der Kategorie „Schwerverletzte“ in der amtlichen Verkehrsunfallstatistik könnte man in der Verkehrssicherheitsarbeit über die oftmals alleinige Betrachtung von Getöteten hinaus auch Opfer mit einem hohen Risiko für Langzeitfolgen berücksichtigen und gezielte Präventionsprogramme ableiten. Dabei soll über die bloße Unterteilung in „MAIS 3+ -ja“ und „MAIS 3+ -nein“ hinaus keine weitere Differenzierung der amtlichen Kategorie „schwerverletzt“ erfolgen.


Somit ist die statistische Erfassung von MAIS 3+ von großer Bedeutung für die Verkehrssicherheitsarbeit der Zukunft und es sollten unbedingt die notwendigen Voraussetzungen für eine Vollerhebung geschaffen werden. Denn es wird einerseits seit Jahren in Deutschland keine signifikante Reduktion der Schwerverletztenzahlen mehr erzielt und andererseits fehlen Kenntnisse über die örtliche und zeitliche Verteilung besonders schwer verletzter Unfallopfer wie auch ihre Art der Verkehrsbeteiligung, z.B. als Zufußgehende, Fahrrad- oder Motorradnutzende, die mit gezielten Präventionsmaßnahmen adressiert werden könnten.


Empfehlungen

1.Schaffung der barrierefreien und datenschutzkonformen Erhebung sowie Verarbei-tung von Daten zur Einstufung der Verunfallten in MAIS 3+ (ja/nein).

2. Berücksichtigung der bereits durchgeführten Maßnahmen zur Etablierung einer MAIS 3+ -Erfassung in der amtlichen Unfallstatistik, Evaluation der Gründe für das bisherige Scheitern der Maßnahmen und Aufführen der Herausforderungen.

3. Unterstützung in der Rechtsberatung zur datenschutzkonformen prospektiven Erhebung durch Zusammenarbeit von medizinischem Personal und Polizei.

4. Durchführung von Pilotprojekten, die bspw. das Potenzial der Verknüpfung von polizeilichen Unfalldaten mit den Daten des TraumaRegister DGU® evaluieren und die Machbarkeit der Erhebung innerhalb der Notaufnahmen testen. Für die schnelle Entscheidung über das Vorliegen von MAIS 3+ in der frühen Phase der Akutversorgung sollte eine Einschätzung an der Unfallstelle durch das medizinische Personal erprobt werden, um Ermittlungsanfragen durch die Polizei zeitnah, aussagekräftig und mit minimalem Mehraufwand beantworten zu können.

5. Einbindung aller wichtigen Beteiligten in der Unfalldatenerhebung sowie Patientenversorgung, um Chancen und Risiken möglichst interdisziplinär und interprofessionell zukunftsgerichtet gestalten zu können.

6. Etablierung einer digitalen, datenschutzkonformen sowie prospektiven Anwendung für die Polizei zur Erfassung der MAIS 3+-Einstufung für die Verunfallten.

Werben um Unterstützung (bei politischen Entscheidern) nach Vorliegen weiterer Ergebnisse und Erkenntnisse aus Pilotstudien zur Machbarkeit für eine Vollerhebung von MAIS 3+ als Unterkategorie der „Schwerverletzten“ im Straßenverkehr als Grundlage für die Verkehrssicherheitsarbeit.


Erläuterung

Warum reicht GIDAS nicht?
GIDAS ist das von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und der Forschungsvereinigung Automobiltechnik (FAT) des Verbands der Automobilindustrie (VDA) finanzierte Unfallforschungsprojekt in den Regionen in und um Hannover, Dresden und – seit Mitte 2023 – München. GIDAS erhebt nach einem festgelegten Stichprobenverfahren Unfälle mit Personenschaden in den betreffenden Regionen mit Angaben zu Umgebungsbedingungen, technischen, verhaltensbezogenen und verletzungsmechanischen Aspekten mit dem Anspruch, stellvertretend für das Gesamtunfallgeschehen mit Personenschaden in Deutschland zu sein. Pro Jahr werden insgesamt ca. 2000 Unfälle erhoben; die Mehrheit entsprechend der natürlichen Verteilung mit leichtverletzten Verkehrsteilnehmenden. Die Anzahl verletzter Personen mit Verletzungsschweregrad MAIS 3+ ist – ebenso wie die Anzahl der Getöteten – entsprechend gering. Diese Fallzahl, die sich zudem auf verschiedene Arten der Verkehrsteilnahme von Zufußgehenden bis hin zu Insassen von schweren Güterkraftfahrzeugen aufteilt, ist unzureichend, um verlässliche Aussagen über die Entwicklung der Anzahl lebensbedrohlich Verletzter im Jahresturnus zu treffen. Daher werden derzeit GIDAS- Daten mehrerer Jahre nach einem komplexen statistischen Verfahren auf die Ergebnisse der amtlichen Straßenverkehrsunfallstatistik hochgerechnet, um eine Schätzung für die von der EU geforderte Anzahl von „Seriously Injured“ (MAIS 3+) aus Deutschland berichten zu können. Dieser Ansatz ist für die Schätzung der Gesamtzahl potentiell lebensgefährlich Verletzter valide und reliabel. Eine tiefere wissenschaftliche Analyse, z. B. die Untersuchung von Subgruppen und die Ableitung von Maßnahmen, ist ebenfalls möglich, aber mit einer größeren Unsicherheit behaftet; je weiter die Stich-probe untergliedert wird, desto kleiner die Fallzahl und desto unsicherer das Ergebnis.

Sind gesetzliche Änderungen nötig?
§ 2 Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz (StVUnfStatG) wäre durch den Bundesgesetzgeber zu ändern in einer Weise, dass künftig das Merkmal MAIS 3+ für potenziell lebensgefährlich Verletzte zu erfassen ist, möglicherweise als vertiefendes Merkmal zur dort in § 2 IV StVUnfStatG niedergelegten Definition des Verletzten und des Schwerverletzten: „Verletzte sind Personen, die bei dem Unfall Körperschäden erlitten haben. Werden sie deshalb zur stationären Behandlung in ein Krankenhaus aufgenommen, so gelten sie als Schwerverletzte.“

Von einem Gremium der Innenministerkonferenz (Unterausschuss Führung/Einsatz/Kriminalitätsbekämpfung - UAFEK) wird aktuell eine Prüfung angestoßen, ob „EBUS“ noch zeitgemäß ist und im Rahmen des Projekts P20 eingeführt werden soll. Sollte die Prüfung zu dem Ergebnis kommen, die Erhebung der Verkehrsunfälle auf die in EBUS beschriebenen Unfallmerkmale umzustellen, wäre das eine passende Gelegenheit die vorhandenen Strukturen direkt um die neue Unterkategorie zu erweitern.

Evidenz und Beispiele für gezielte Maßnahmen zur Unfallfolgenvermeidung bzw. Verletzungsvermeidung
Für die polizeiliche Ermittlungsarbeit nach einem Verkehrsunfall können sich Vorteile daraus ergeben, dass die ermittelnden Beamten und Beamtinnen kurzfristig – entweder noch vor Ort an der Unfallstelle oder durch die im Folgenden behandelnde Klinik – eine Information erhalten, ob bei der behandelten Person eine potenziell lebensbedrohliche (MAIS 3+) Verletzungsschwere vorliegt. Damit ließe sich besser einschätzen, ob eine gezielte Spurensicherung, ggf. auch die Hinzuziehung von externen Sachverständigen und Gutachtern bei der Unfalldokumentation und -rekonstruktion, erforderlich wird.

Alle Arten der Verkehrsteilnahme, aber insbesondere neue, bspw. Elektrokleinstfahrzeuge, könnten in ihrer Auswirkung auf die Verkehrssicherheit detailreicher und genauer überprüft werden, weil neben der – statistisch oftmals zu geringen – Fallzahl von Getöteten und der hinsichtlich der anatomischen Verletzungsschwere relativ unspezifischen Kategorie von „Schwerverletzten“ mit „potenziell lebensbedrohlich Verletzten (MAIS 3+)“ eine zusätzliche und für das Risiko von Langzeitfolgen aussagekräftigere Größe zur Verfügung stünde.

Auf regionaler bzw. Landkreisebene sind die Behörden verpflichtet, durch Analyse des dortigen Unfallgeschehens Maßnahmen gegen Verkehrsunfälle – insbesondere mit schweren Folgen – zu planen, umzusetzen und auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. Ein Beispiel ist die Identifizierung von Unfallschwerpunkten oder Unfallhäufungslinien in einer Region, wozu oftmals die Anzahl von Unfällen mit Schwerverletzten und Getöteten herangezogen wird. Die Anzahl von Getöteten ist in der Regel zu gering und deren Zahl stark schwankend. Die Anzahl von Schwerverletzten wird hingegen z.T. durch zufällige Faktoren bestimmt, wie die stationäre Aufnahme für einen Tag anstelle einer ambulanten Behandlung, welche den Unterschied zwischen der Einordnung als „schwerverletzt“ oder „leichtverletzt“ machen können. Besonders die Überprüfung der Effektivität von Maßnahmen, bspw. die Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, die in der Regel über einen Vergleich der Unfallzahlen in Drei-Jahres-Zeiträumen vor und nach der Maßnahme vorgenommen wird, kann dadurch erschwert werden.

Überlegungen zur Datenverfügbarkeit wie auch zur Datensparsamkeit sollten sich im Kern an der Forderung orientieren, dass aus der Klinik auf Nachfrage durch die befugte Behörde, also die ermittelnden Polizeidienststellen lediglich die Information gegeben wird, ob ein dort behandeltes Verkehrsunfallopfer einen (Gesamt-) Verletzungsschweregrad MAIS 3+ auf-weist oder nicht. Weitere Informationen, insbesondere zu den Verletzungen selbst oder den betroffenen Körperregionen, werden damit nicht übermittelt. In der amtlichen Verkehrsunfall-statistik werden nur aggregierte Verkehrsunfalldaten abgebildet. Die Anzahl von MAIS 3+-Verletzten in einem Bundesland oder der gesamten Bundesrepublik ist ausreichend groß – und deutlich größer als die der Getöteten –, sodass Rückschlüsse auf einzelne Unfallereignisse unmöglich werden.

Überdies kann die fehlende objektive medizinische Feststellung der erheblichen unfallbedingten Verletzungsschwere den Opfern die Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber den Versicherern der Unfallverursacher erschweren. Zwar kann die alleinige Einführung der Unterkategorie MAIS 3+ in die medizinische Unfallstatistik nicht die notwendigen Gutachtertätigkeiten ersetzen, sie gibt aber den Hinweis darauf, dass in dem vorliegenden Fall eine relevante Verletzungsschwere vorgelegen hat, die zumindest das Potenzial für langfristige medizinische Beeinträchtigung erhöht.


gez.
Manfred Wirsch
Präsident

 

 

 

 

 

Begriffsklärung MAIS 3+ Die Abbreviated Injury Scale (AIS) bzw. vereinfachte Verletzungsskala wurde Ende der 1960er Jahre als Bewertungsskala für die Letalität von Einzelverletzungen eingeführt. Treibende Kraft für die Entwicklung war die Unfallforschung für Kraftfahrzeuge in den USA. Die bis dahin übliche Beschreibung von Verletzungsmustern führte bei der Verletzungsbewertung von PKW-Insassen zu inkonsistenten Ergebnissen: Bei gleicher mechanisch-technischer Unfallkonstellation divergierten die erfassten Insassenverletzungen stark. Bei der AIS wird der Schwere-grad einer Verletzung mit Werten von 0 (keine Verletzung) bzw. 1 (leichte Verletzung) bis 6 (tödliche Verletzung) klassifiziert.
Die AIS gibt für jede Körperregion eine Verletzungsschwere an. Oft werden die Körperregionen der Einzelverletzungen in einer Gesamtverletzungsschwere zusammengefasst dadurch, dass mindestens ein maximaler AIS x+ vorliegt. Hierfür hat sich die Abkürzung MAIS x+ durchgesetzt. Die Verletzungsaggregation über MAIS 3+ beschreibt dabei potenziell lebensgefährlich verletzte Patienten, da ab einer AIS 3 und schwerer Verletzung, eine Lebensgefahr vorliegen kann. Diese Verletzungsaggregation wandelt die Ordinalskalierte MAIS Variable in eine binäre Variable um, deren Ausprägung für MAIS Werte unterhalb von x, 0 und für Ausprägungen von x und größer, 1 ist. In der Regel werden bei der „MAIS x+“ Betrachtungen Personen mit einer Verletzung mit einem AIS-Code von 9, ausgeschlossen. In der Tabelle sind Beispiele für Überlebenswahrscheinlichkeiten in Bezug auf die Verletzungsschwere aufgeführt.

AIS-CodeAIS-VerletzungsschwereNTDBTrauma.orgGIDAS (AIS)GIDAS (MAIS)
0Unverletzt100,0100,0100,0100,0
1Gering99,3100,099,899,9
2Ernsthaft99,299,399,499,6
3Schwer96,597,198,395,8
4Sehr Schwer85,493,184,684,9
5Kritisch60,467,761,542,0
6Maximal (nicht behandelbar)21,00,00,00,0

 


[1] Vgl. Begriffsklärung am Ende dieses Dokuments.