Müdigkeit im Straßenverkehr

Beschluss vom 16.05.2022 auf Basis der Empfehlungen des Vorstandsausschusses Verkehrsmedizin

Einführung

Müdigkeit kann zu einem erheblichen Verkehrssicherheitsrisiko führen.  Da der Müdigkeit unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen, müssen neben der Sensibilisierung für das Thema auch medizinische, verkehrs- und fahrzeugtechnische Maßnahmen umgesetzt werden, um Unfällen vorzubeugen.

Empfehlungen

  • Stetige Sensibilisierung aller Verkehrsteilnehmenden hinsichtlich der Gefahren von Müdigkeit im Straßenverkehr mittels Kampagnen und Aktionen durch verkehrssicherheitsrelevante Akteure und Unternehmen, insbesondere die des Straßengüter- und Personenverkehrs. Dabei soll fundiertes Wissen über die Entstehung, Erkennung und Vermeidung von Müdigkeit im Straßenverkehr vermittelt werden.
  • Information der Verbraucher/innen durch die Fahrzeughersteller und -händler über den Zweck und die Funktionsweise von Fahrerassistenzsystemen, die bei Müdigkeit oder Aufmerksamkeitsdefiziten warnen und gegebenenfalls unterstützend eingreifen.
  • Förderung der Weiterentwicklung von Systemen in Fahrzeugen der privaten wie auch der gewerblichen Nutzung, die Müdigkeit und Einschlafen adressieren, z.B. durch Verbraucherschutzorganisationen wie EuroNCAP.
  • Erhöhung der Beratungskompetenz von Haus- und Betriebsärztinnen und -ärzten durch spezifische Fortbildungen über die Ärztekammern und die Fachpresse hinsichtlich der verkehrsrelevanten Auswirkungen von Erkrankungen und Medikamenten, die Müdigkeit verursachen.
  • Erhöhung der Beratungskompetenz von Unternehmern und Fachkräften für Arbeitssicherheit mittels spezifischer Fortbildungen und Bereitstellung von Informationsmaterialien zur Unterweisung der Beschäftigten durch die Unfallversicherungsträger.
  • Zügige Umsetzung des 5-Punkte Plans des BMDV zur Schaffung der erforderlichen Lkw-Stellplätze.
  • Verbesserung und Erweiterung der Überwachungsmöglichkeiten der Lenk- und Ruhezeiten im gewerblichen Güter- und Personenkraftverkehr durch Polizei und das Bundesamt für Güterverkehr BAG mittels entsprechender Personalausstattung und ausreichender Kontrollplätze.
  • Integration intelligenter, ergonomischer Lösungen zur Steigerung des Fahrerkomforts inkl. des Temperaturmanagements in der Fahrerkabine. Forcierte Weiterentwicklung und Optimierung der Fahrerarbeitsplätze sowie der Ruheplätze und gegebenenfalls Liegeplätze in Lkw und Kraftomnibussen aller Größen und Einsatzfelder inkl. Schnittstellen für die Nutzung von Geräten gegen Schlafapnoe
  • Profilierte Randmarkierungen/Rüttelstreifen durch die Straßenbaulastträger an Streckenabschnitten umsetzen, bei denen die Unfallarten „Abkommen von der Fahrbahn nach rechts“, „Abkommen von der Fahrbahn nach links“ bzw. die Unfallursache „Übermüdung“ besonders auffällig sind.
  • Intensivierung der Forschung zur besseren Erfassung von Müdigkeitsunfällen insbesondere im Hinblick auf den Einfluss von krankheitsbedingten Schlafstörungen.
  • Förderung der Grundlagenforschung zur non-invasiven messtechnischen Bestimmung bzw. Erfassung von Müdigkeitssymptomen, die valide Aussagen im Hinblick auf die Verkehrstüchtigkeit der Testperson zulassen.

Erläuterung

Laut Statistischem Bundesamt starben im Jahr 2020 26 Personen aufgrund der Unfallursache Müdigkeit im Straßenverkehr, 619 Personen wurden schwer und 1.497 leicht verletzt[1].  83 Prozent der Müdigkeitsunfälle wurden 2020 von Pkw-Fahrzeugführenden verursacht, 13,7 Prozent von Lkw-Fahrenden. Die insgesamt 1.448 Unfälle mit Personenschaden stellen zwar nur 0,55 Prozent aller Unfälle mit Personenschaden dar, es kann jedoch von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen werden. Übermüdung am Steuer wird von den Fahrzeugführenden meist nicht zugegeben, da diese Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit rechtliche Konsequenzen wie Fahrerlaubnisentzug, Geld- oder gar Haftstrafen für die Unfallverursachenden nach sich ziehen könnte. Im Rahmen einer Befragung des DVR gaben jedoch 26 Prozent der repräsentativ befragten Pkw-Fahrerinnen und -Fahrer zu, bereits schon einmal hinterm Steuer eingeschlafen zu sein[2]. Eine Umfrage der European Transport Workers Federation ETF unter Berufskraftfahrenden ergab, dass 24 bis 26 Prozent der Busfahrerinnen und Busfahrer in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal am Steuer eingeschlafen waren. Bei den Lkw-Fahrerinnen und -Fahrern waren es 30 Prozent [3].

Nationalen wie internationalen Studien zufolge sind bis zu 25 Prozent aller Getöteten im Straßenverkehr auf Müdigkeitsunfälle zurückzuführen[4]. Im Rahmen einer aktuellen Analyse von Straßenverkehrsunfällen von Versicherten der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) sind 24 Prozent der tödlichen und schweren Wege-, Dienstwegeunfälle sowie Arbeitsunfälle im Straßenverkehr vorrangig auf Schläfrigkeit – der Neigung des Hirns, vom Wachsein in den Schlafzustand überzugehen wie beim Sekundenschlaf – und weitere 18 Prozent auf Müdigkeit/Unaufmerksamkeit  – nämlich das subjektive Gefühl der Erschöpfung bzw. eines chronisch erhöhten Anspannungsniveaus – zurückzuführen[5].

Bei Müdigkeit lässt die Konzentrationsfähigkeit des Fahrenden deutlich nach. Da im Straßenverkehr von Fahrzeugführenden ständige Aufmerksamkeit gefordert wird, kann diese reduzierte Aufmerksamkeit schwerwiegende Folgen haben. Müde Fahrerinnen und Fahrer schätzen Geschwindigkeiten sowie zurückgelegte Strecken und Entfernungen falsch ein und halten sich für leistungsfähiger, als sie tatsächlich sind. Diese reduzierte Aufmerksamkeit darf nicht mit Ablenkung verwechselt werden, sondern sie resultiert aus einer Minderung der persönlichen Ressourcen der Fahrenden. Bei Übermüdung droht das ungewollte Einschlafen. Dauert der Schlaf z. B. fünf Sekunden, dann legt ein Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h in dieser Zeit etwa 110 Meter unkontrolliert zurück.

Faktoren, die Müdigkeit insbesondere bedingen, sind: Schlafdefizite, schlafbezogene Erkrankungen wie Schlafapnoe oder Narkolepsie, Schlafstörungen, Medikamente, situative Faktoren (v. a. lange Belastung), Fahrtdauer und monotone Fahrstrecken. Eine besondere Rolle bei der Entstehung von Müdigkeit spielt der zirkadiane Rhythmus, der den Schlaf-Wach / bzw. Tag-Nacht Zyklus bestimmt.

Viele Kraftfahrzeugführende sind sich der Gefahr durch Übermüdung am Steuer nicht bewusst, insbesondere die der Tagesschläfrigkeit und des Sekundenschlafs[6]. Mit der bundesweiten BMDV/DVR Kampagne „Vorsicht Sekundenschlaf!“ erfolgte eine breite Aufklärungsarbeit, die von vielen verkehrssicherheitsrelevanten Akteuren fortgeführt werden sollte. Auch Unternehmen und Ärztinnen und Ärzte können dazu beitragen, über den Einfluss der Müdigkeit auf das Fahrverhalten aufzuklären.

Eine Reduzierung von Müdigkeitsunfällen ist durch die verpflichtende Einführung von Fahrerassistenzsystemen wie Müdigkeits- und Aufmerksamkeitswarnern sowie von Spurhalteassistenten im Rahmen der General Safety Regulation – der Typengenehmigung von Fahrzeugen – zu erwarten[7]. Verbraucherschutzorganisationen wie EuroNCAP bewerten die Funktionalität und Wirksamkeit dieser FAS und tragen dazu bei, auf der Basis der Ergebnisse die Weiterentwicklung dieser Systeme zu fördern[8].

Die Tätigkeit als Berufskraftfahrer/innen ist fordernd. Berufskraftfahrende verbringen viel Zeit in ihren Fahrzeugen und stehen häufig unter Zeitdruck. Dabei sind das Anforderungsprofil und die damit verbundenen Arbeitsplatzbedingungen sehr unterschiedlich und insbesondere abhängig vom Transportgut, der Strecke des Transportweges und der Organisation der Arbeitsaufgabe.[9]

Dies betrifft auch ausländische Lkw-Fahrende. Der Anteil an gebietsfremden Lkw ab 7,5t zulässiger Gesamtmasse beträgt ca. 40% an den Gesamtfahrleistungen in Deutschland. Kontrollen zur Einhaltung der Lenk- und Ruhezeiten sowie der Arbeitszeiten der Berufskraftfahrerinnen und -fahrer sind von der EU vorgegeben[10] und werden in den Mitgliedsländern auch durchgeführt, sie variieren jedoch hinsichtlich der Anzahl und der Qualität[11].

Enge Lieferpläne und ein struktureller Mangel an geeigneten Parkplätzen in ganz Europa verhindern, dass Lkw-Fahrerinnen und -fahrer ihren Schlafpausen nachkommen können[12]. Laut einer Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen bestand 2018 ein Fehlbestand von rund 23.300 Lkw-Parkmöglichkeiten an und auf den Bundesautobahnen.[13] Mit einem 5-Punkte Plan des BMDV werden nicht nur neue Lkw-Plätze auf den staatlichen Rastanlagen an den Autobahnen gebaut, es soll auch Fördergelder für private Investoren geben, die Stellplätze neben der Autobahn, z.B. in Gewerbegebieten schaffen wollen[14]

Als typische Merkmale der Müdigkeitsunfälle wurden folgende identifiziert: Das Fahrzeug hat die Straße verlassen oder ist auf ein anderes Fahrzeug aufgefahren, es gibt keine Bremsspuren, Wetter und Sicht waren zum Zeitpunkt des Unfalles gut, Defekte am Fahrzeug, überhöhte Geschwindigkeit, zu geringer Abstand und Alkoholeinfluss wurden ausgeschlossen[15]. Die in den Seitenstreifen gefrästen Rüttelstreifen erweisen sich als hoch wirksame Maßnahme zur Reduktion von Abkommensunfällen von der Fahrbahn nach rechts, wie ein Pilotversuch in Deutschland und internationale Erfahrungen zeigen[16].

Valide Daten zu Müdigkeitsunfällen sind allerdings eher anhand von Unfallrekonstruktionen denn durch die von der Polizei erfassten Unfallursachen ermittelbar. Vor dem Hintergrund der Diskrepanz der Daten ist ein Forschungsbedarf insbesondere auf dem Gebiet valider Messinstrumente vorhanden. Es zeigt sich, dass für die meisten gebräuchlichen Verfahren eine wissenschaftliche Überprüfung testtheoretischer Gütekriterien nicht gegeben ist. Auch liegt häufig keine wissenschaftliche Normierung der Verfahren an einer ausreichenden Zahl von Probanden oder Patienten vor. Zukünftige Entwicklungen neuer Untersuchungsinstrumente sollten diesen Kritikpunkten Rechnung tragen.

 

gez.
Prof. Dr. Walter Eichendorf
Präsident

 


[4] Hrsg.: B. Wilhelm, E. Stephan, V. Dittmann: Schriftenreihe Fahreignung, 6. Symposium der DGVM/DGVP 2010; https://dgvm-verkehrsmedizin.de/wp-content/uploads/2019/10/Symposium_T%C3%83%C2%BCbingen.pdf  und
Brian C. Tefft, AAA Foundation 2015: Prevalence of Motor Vehicle Crashes Involving Drowsy Drivers, United States, 2009 – 2013; https://dgvm-verkehrsmedizin.de/wp-content/uploads/2019/10/Symposium_T%C3%83%C2%BCbingen.pdf

[5] Ina Papen: Aus bisher ungeklärter Ursache – Relevanz und Prävention müdigkeitsbedingter Verkehrsunfälle aus Sicht eines gesetzlichen Unfallversicherungsträgers. Masterarbeit an der Dresden International University, August 2020. Verfügbar unter: www.wisom.de

[8] Assessment Protocol – SA – Safe Driving v10.0: Occupant status monitoring und driver state monitoring; https://www.euroncap.com/en/for-engineers/protocols/safety-assist

[9] DEKRA VERKEHRSSICHERHEITSREPORT 2018 – Güterverkehr; https://www.dekra-roadsafety.com/media/de/dekra-evs-report-2018-de-final.pdf

[11] EU-Kommission: 30. Bericht über die Umsetzung der Sozialvorschriften im Straßenverkehr; https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52021DC0610&from=EN

[12] ETF, ebenda.

[15] Horne, J.A., Reyner, L.A. . Driver sleepiness. Journal of sleep research, (1995) 4, Suppl. 2, S. 23-29;  https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/j.1365-2869.1995.tb00222.x

[16] BASt: Sicherheitswirkung, Dauerhaftigkeit und Lärmemission von eingefrästen Rüttelstreifen, Bericht V312, 2018; S. 39-40; https://bast.opus.hbz-nrw.de/frontdoor/index/index/searchtype/latest/docId/2121/start/0/rows/10