Medikamente im Straßenverkehr

Beschluss vom 10. Mai 2021 auf der Basis einer Empfehlung des Vorstandsausschusses Verkehrsmedizin

Leitsatz

Eine Medikamenteneinnahme kann zu einem erheblichen Verkehrssicherheitsrisiko führen. Fehlendem Problembewusstsein und mangelnden Kenntnissen muss durch Aufklärungs- und Ausbildungsmaßnahmen entgegengewirkt werden.

 

Beschluss

  • Verpflichtende Einführung leichter verständlicher Hinweise hinsichtlich der Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit (z.B. ein Ampelsystem auf den Medikamentenpackungen) sowie klare Handlungsanweisungen für die Patientinnen und Patienten.
  • Schaffung von Anreizen durch die Einführung einer Abrechnungsziffer für verkehrsmedizinische Beratungen durch behandelnde Ärztinnen und Ärzte.
  • Stärkere Berücksichtigung verkehrsmedizinischer Inhalte in der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung.
  • Intensivierung der verkehrssicherheitsrelevanten Information und Beratung durch Apotheken und Online-Apotheken im Rahmen ihrer Beratungspflicht hinsichtlich der Medikamentensicherheit
  • Einführung verkehrsmedizinischer Inhalte zu Medikamenten als festen Bestandteil im Curriculum der Aus- und Fortbildung der Polizei mit dem Ziel einer besseren Erkennung von Auffälligkeiten unter Medikamenteneinfluss.
  • Vermittlung von Kenntnissen zur Entdeckung von unter Medikamenteneinfluss stehenden Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer im Rahmen der polizeilichen Aus- und Fortbildung.
  • Intensivierung der epidemiologischen Forschung zur Verkehrssicherheit unter Medikamenteneinfluss auch unter besonderer Berücksichtigung der Wechselwirkung zwischen verschiedenen Medikamenten.

Erläuterung

Medikamente zur Behandlung von Erkrankungen und Linderung von Beschwerden können die Fahreignung verbessern oder wiederherstellen. Allerdings können nicht nur rezeptpflichtige, sondern auch freiverkäufliche Arzneimittel zum Risikofaktor beim Fahren werden. Der Anteil der Unfälle mit Personenschaden unter Drogen und Medikamenten hat seit 1990 um ca. das 7-fache zugenommen[1]. Für die regelmäßig veröffentlichen Unfallzahlen des Statistischen Bundesamtes erfolgt die Einordnung medikamentenbedingter Unfälle zusammen mit den Unfällen, die durch illegale Drogen bedingt sind. Wegen der geringen Entdeckungswahrscheinlichkeit mangels standardisierter Schnelltests und uneinheitlicher Hinweise für die diesbezüglich oft unzureichend geschulten Polizeibeamten muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.

Ca. 15-20% der zugelassenen Medikamente[2] können die Fahrsicherheit beeinträchtigen. Fahrsicherheitsrelevante Wirkungen haben insbesondere Schmerzmittel (Analgetika, insbesondere Opiate und Opioide), Schlaf- und Beruhigungsmittel (Sedativa), Psychopharmaka (Antidepressiva, Neuroleptika und Tranquilizer), Ophthalmika (gegen Augenleiden) sowie Medikamente gegen Bluthochdruck, Allergien und Diabetes. Gerade in der Einstellungsphase sowie bei Dosisänderung sind fahrsicherheitsrelevante Wirkungen bei den o.g. Medikamentengruppen zu erwarten. Fachinformationen und Beipackzettel über diese Wirkungen stehen zur Verfügung. Diese Informationen sind insbesondere für Patienten in ihrer Aussage nicht eindrücklich genug. Ein Medikamentenlabel zur Fahrsicherheit würde zur Aufklärung und Information der zu behandelnden Personen einen positiven Beitrag leisten und wurde bereits beim Verkehrsgerichtstag im Jahr 1999[3] empfohlen. Im Rahmen des „Aktionsplan zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit“[4] der Bundesärztekammer sind in einem Workshop im Jahr 2019 die Vorschläge des EU - Projektes DRUID zur Arzneimittelklassifikation auf ihre Umsetzbarkeit diskutiert und die Schlussfolgerungen dem Bundesministerium für Gesundheit zugeleitet worden[5]. Eine Umsetzung ist bisher nicht erfolgt.

Besonders bei Multimedikation sind fahreignungsrelevante Beeinträchtigungen zu erwarten und oft nicht vorhersehbar. Der Anteil von Menschen mit einer Mehrfachverordnung ist hoch[6] und steigt im höheren Lebensalter[7]. Problematisch sind in diesem Zusammenhang u.a. Tranquilizer, Antidepressiva, Hypnotika und Opioide, da sie dämpfend wirken und das Reaktionsvermögen beeinträchtigen.

Ca. 1,7 Millionen Menschen[8] sind bundesweit von Medikamenten - vorwiegend aus der Gruppe der zentralwirksamen Schmerzmittel und der Benzodiazepine - abhängig. Benzodiazepine erhöhen die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Straßenverkehrsunfälle um das 1,5 bis 3-fache[9]. Verkehrsrelevante Funktionsbereiche wie die Aufmerksamkeit und die Konzentration, die optische Orientierungsleistung sowie die motorische Koordination der Fahrzeugführenden weisen unter dem Einfluss von Benzodiazepinen Defizite auf, die bis zu 9 Stunden nach Medikamenteneinnahme anhalten können[10].

Die Verordnungen schmerzlindernder und –befreiender Medikamente aus der Gruppe der Opiate und Opioide sowie Cannabis nehmen in den letzten Jahren zu[11]. Diese Medikamente haben ein hohes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial. Vor allem die sedierende Wirkung dieser Medikamente sowie kognitive und psychomotorische Einschränkungen beeinflussen die Fahrsicherheit.

Mediziner sind dazu verpflichtet, ihre Patientinnen und Patienten über die Beeinträchtigung ihrer Fahrsicherheit bei Einnahme bestimmter Medikamente zu informieren[12] und vom Führen eines Fahrzeuges gegebenenfalls abzuraten. Allerdings spielen bei der ärztlichen Aus- und Fortbildung verkehrsmedizinische und verkehrsrechtliche Inhalte eine untergeordnete Rolle. Verkehrsmedizinische Beratungen sind zeitaufwendig und werden bisher nicht gesondert vergütet. Es ist nicht zu erwarten, dass Patienten die Ärzte grundsätzlich darauf ansprechen, weil ihnen die Problematik der Eigenverantwortung im Straßenverkehr möglicherweise nicht ausreichend bewusst ist.

Im Rahmen ihrer Beratungspflicht sind auch Apotheken und Online-Apotheken verpflichtet[13], Patientinnen und Patienten auch über mögliche fahrsicherheitsrelevante Auswirkungen aufzuklären.

Wie groß die Dimension des medikamentenbedingten Unfallgeschehens in Deutschland tatsächlich ist, kann derzeit kaum beurteilt werden. Epidemiologische Studien im Rahmen der Verkehrssicherheitsforschung sind daher weiterhin notwendig, um das Ausmaß genauer ermitteln und Maßnahmen daraus ableiten zu können.

gez.

Prof. Dr. Walter Eichendorf
Präsident



[1] Statistisches Bundesamt: Unfälle unter dem Einfluss von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln im Straßenverkehr 2019: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Publikationen/Downloads-Verkehrsunfaelle/unfaelle-alkohol-5462404197004.pdf?__blob=publicationFile

[2] www.der-arzneimittelbrief.de/de/Artikel.aspx?SN=7047 abgerufen am 19.01.21

[4] Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: https://www.akdae.de/AMTS/Aktionsplan/index.html; abgerufen am 19.01.21

[6] Rainer Radtke in: de.statista: Bevölkerungsanteil in Deutschland nach Anzahl eingenommener Medikamente im Jahr 2019, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/561628/umfrage/bevoelkerungsanteil-in-deutschland-nach-anzahl-eingenommener-medikamente/#statisticContainer abgerufen am 19.01.21

[9] Elvik,R.(2013): Risk of road accident associated with the use of drugs: A systematic review and meta-analysis of evidence from epidemiological studies. Accident Analysis & Prevention, 60, 254-267.

[10] Kaußner, Y; Krüger, H.-P.(2012): Psychopharmaka und Fahrtüchtigkeit. In: Gründer,G. Benkert, O. (Hrsg.): Handbuch der psychiatrischen Pharmakotherapie (S. 1218-1225). Heidelberg: Springer

[11] Ulrich Schwabe, Wolf-Dieter Ludwig: Arzneiverordnung-Report 2020

[12] Halbe, Bernd in Deutsches Ärzteblatt 2018, Heft 38: Aufklärungspflicht: Umgang mit fahruntauglichen Patienten in der Praxis. https://www.aerzteblatt.de/archiv/200858/Aufklaerungspflicht-Umgang-mit-fahruntauglichen-Patienten-in-der-Praxis

[13] Apothekenbetriebsordnung –ApBetrO, § 20:

https://www.gesetze-im-internet.de/apobetro_1987/__20.html