Automatisierte Fahrfunktionen

Beschluss vom 08. November 2017 auf Basis einer Empfehlung des Vorstandsausschusses Fahrzeugtechnik unter Mitwirkung der Vorstandsausschüsse Erwachsene und Junge Kraftfahrer

Deutscher Verkehrssicherheitsrat e.V. – 2017

Präambel

Im Jahr 2015 hat der Vorstand des DVR einen Beschluss zum hochautomatisierten Fahren gefasst. Die einzelnen Forderungen darin bestehen weiter. Angesichts der weiteren Entwicklungen in rechtlicher Sicht, insbesondere der Änderung des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) am 21.06.2017, den aktuellen Beratungen zu den Änderungen der UN/ECE-Regelungen sowie den Ergebnissen der Ethik-Kommission1 zum automatisierten Fahren, nimmt der DVR erneut Stellung.

Hintergrund

Der DVR erwartet, dass die Einführung und Nutzung von teil-, hoch- und vollautomatisierten Fahrfunktionen in der Zukunft einen wesentlichen Beitrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit leisten.

Anforderungen aus dem Verkehrsrecht

Das Verkehrsrecht, insbesondere die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO), formuliert Rechte und Pflichten für natürliche Personen als Verkehrsteilnehmende. Es ist dahingehend zu überprüfen, wie die dort getroffenen Inhalte und Regeln auf automatisierte Systeme übertragen werden können.

Um Verkehrsteilnehmende bei einem gemischten Verkehr nicht zu irritieren oder kein falsches Vorbild zu geben, soll sich das Fahrverhalten automatisierter Systeme, auch wenn dies aus sicherheitstechnischen Gesichtspunkten möglich wäre, nicht von dem für natürliche Personen vorgeschriebenen Fahrverhalten unterscheiden. Bei Ausnahmen, wie z.B. dem Platooning mit einem geringen Abstand, sollen die Fahrzeuge für Dritte als automatisiert fahrende Fahrzeuge erkennbar sein. (Empfehlung 1)

Vergleich der Sicherheitsniveaus

Der DVR schließt sich der Bewertung der Ethik-Kommission an, dass die Vorteile für die Sicherheit die Risiken der Systeme überwiegen (S. 15 des Berichts der Ethik-Kommission).

Es wird beim heutigen Stand der Technik Situationen geben, in denen hoch- und vollautomatisierte Systeme das menschliche Leistungsvermögen noch nicht erreichen.

Es ist ebenfalls davon auszugehen, dass den automatisiert fahrenden Fahrzeugen, wie allen hochkomplexen technischen Systemen, auch Risiken innewohnen.

Dennoch muss sichergestellt sein, dass Fahrzeuge mit hoch- und vollautomatisierten Fahrfunktionen im Vergleich zu heutigen insgesamt ein höheres Sicherheitsniveau für alle Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer dauerhaft erreichen. Bei diesem Vergleich sind auch die typischen menschlichen Fehlerquellen der Nutzenden von automatisierten sowie nicht automatisierten Fahrzeugen, wie z.B. Unaufmerksamkeit, Fehleinschätzungen oder auch bewusstes Fehlverhalten, zu berücksichtigen.

Bei den Anforderungen an die technologischen Systeme ist ein höchstmögliches Maß an Sicherheit zu gewährleisten. Durch Nutzung von redundanten Informationen aus unabhängigen unterschiedlichen Quellen kann automatisiertes Fahren optimiert gestaltet werden.

Es ist daher bei der Zulassung der Systeme in jedem Einzelfall abzuwägen, ob der zu erwartende Sicherheitsgewinn mögliche Risiken überwiegt. (Empfehlung 2)

Felderfahrungen und Simulationen

Felderfahrungen und Simulationen sind für die Weiterentwicklung teil-, hoch- und vollautomatisierter Fahrfunktionen notwendig. Es sollen weitere Möglichkeiten eröffnet werden, den Sicherheitsgewinn der Fahrfunktionen vor deren Genehmigung zu ermitteln. Nach deren Zulassung sind die neuen Technologien durch Feldbeobachtungen zu sichern. (Empfehlung 3)

Zulassung für Forschungsprojekte

Derzeit wird im Rahmen von Forschungsprojekten die Zulassung fahrerloser Fahrzeuge zur Personenbeförderung geprüft. Für diesen Zweck sollen einheitliche Kriterien und Prozesse erarbeitet werden, um die zuständigen Behörden zu unterstützen. (Empfehlung 4)

Zulassung über Ausnahmegenehmigung

In Europa zugelassene Fahrzeuge müssen der Rahmenrichtlinie 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union entsprechen. Für die Zulassung der Fahrzeuge sind daher auch die Regelungen der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UN/ECE-Regelungen) gültig.

Aufgrund der Tatsache, dass noch keine gültigen Regelungen für teil-, hoch- oder vollautomatisiert fahrende Fahrzeuge in Europa existieren, kann eine Typgenehmigung über Artikel 20 der Rahmenrichtlinie (Ausnahmen für neue Techniken oder Konzepte) genehmigt werden. Darüber hinaus können Mitgliedstaaten vorläufige Genehmigungen erlassen, die nur in deren Hoheitsgebiet gelten.

Der DVR empfiehlt, dass bei Zulassung von Fahrzeugen mit automatisierten Fahrfunktionen über Ausnahmegenehmigung angemessene Anforderungen an die konventionelle Fahrzeugtechnik gestellt werden, die sich an den Standards der technischen Regelungen der Wirtschaftskommission für Europa (ECE) orientieren. (Empfehlung 5)

Sichere Bedienung

Es ist abzusehen, dass Fahrzeuge in Zukunft mit in Art und Leistung unterschiedlichen automatisierten Fahrfunktionen ausgestattet sein werden. Um die sichere Bedienung automatisierter Fahrfunktionen zu gewährleisten, fordert der DVR Hersteller, Normungsorganisationen und Gesetzgeber auf, einheitliche

  • Begriffe und Definitionen,
  • Bedienprinzipien,
  • Warnungen und Aufforderungen an die Nutzenden automatisierter Fahrfunktionen

zu erarbeiten. (Empfehlung 6)

Ausreichende Informationen

Automatisierte Fahrfunktionen werden unterschiedlich sein. Daher müssen die Auto Fahrenden ausreichend darüber informiert werden, welche Systemgrenzen bestehen und unter welchen Umständen und auf welche Weise Übernahmeaufforderungen durch das System erfolgen werden und wie darauf zu reagieren ist. (Empfehlung 7)

Verhinderung von Irrtümern oder Missbrauch

Es sind geeignete technische und kommunikative Maßnahmen (Mensch-Maschine-Schnittstelle) vorzusehen, damit Fahrfunktionen nicht irrtümlich oder missbräuchlich verwendet werden können. (Empfehlung 8)

Begriffsbestimmungen

Das StVG beschreibt in seiner neuen Fassung, dass der Fahrzeugführer während der Fahrzeugführung mittels hoch- oder vollautomatisierten Fahrfunktionen „wahrnehmungsbereit“ bleiben muss. Er muss die Fahrzeugsteuerung übernehmen, wenn er aufgrund „offensichtlicher Umstände“ erkennen muss, dass die Voraussetzungen für eine „bestimmungsgemäße Verwendung“ der hoch- oder vollautomatisierten Fahrfunktionen nicht mehr vorliegen.

Der DVR fordert, den Begriff „Wahrnehmungsbereitschaft“ des/der

Fahrzeug Führenden durch eine fachlich begründete Beschreibung der Mindestanforderungen an das Führen von Kraftfahrzeugen unter definierten Graden der Fahrzeugautomation zu ersetzen. Die Gegebenheiten für „offensichtliche Umstände“ und „bestimmungsgemäße Verwendung“ sind zu definieren, um die Auto Fahrenden umfassend über das Gemeinte aufzuklären. (Empfehlung 9)

Gesonderte Unfallanalysen

Da die Entwicklung von automatisierten Fahrfunktionen sich noch in den Anfangsstadien befindet, sollen Unfälle mit Fahrzeugen, die mit automatisierten Fahrfunktionen ausgestattet sind, besonders beobachtet und analysiert werden, um die Sicherheit der Systeme zu erhöhen und aus den gewonnenen Erkenntnissen möglichen Gefährdungen vorzubeugen. Der DVR empfiehlt dem Gesetzgeber die Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass automatisierte Fahrzeuge, die in einen Unfall verwickelt sind, bei der polizeilichen Unfallaufnahme identifiziert, unter anderem über die Fahrzeugidentifikationsnummer, und im öffentlichen Interesse die Unfälle gesondert ausgewertet werden. (Empfehlung 10)

Updates

Automatisierte Fahrfunktionen werden Bestandteil der Typgenehmigung. Es ist zu erwarten, dass Fahrzeuge mit automatisierten Fahrfunktionen regelmäßig Updates ihrer Software erhalten müssen, um auch den aktuellen Änderungen nationaler Rechtsvorschriften (z.B. der StVO) oder Verbesserungen durch die Hersteller zu entsprechen. Dabei sind die Vorgaben aus dem Datenschutz sowie zur Datensicherheit zu gewährleisten.

Es ist sicherzustellen, dass Änderungen der Software, die das Sicherheitsverhalten beeinflussen können, von der zuständigen Genehmigungsbehörde freigegeben werden und deren Software-Integrität im Rahmen der Hauptuntersuchung überprüft wird. Darüber hinaus sind diese Updates nachvollziehbar in den Fahrzeugen zu dokumentieren.

Darüber hinaus muss gewährleistet sein, dass der Fahrzeughersteller sicherheitsrelevante Software-Updates über die Fahrzeuglebensdauer, mindestens jedoch für 20 Jahre, zur Verfügung stellt. (Empfehlung 11)

Prüfbarkeit von voll- und hochautomatisierten Fahrzeugen

Mit der zukünftigen Einführung von automatisierten Fahrfunktionen werden die Anforderungen an die Zuverlässigkeit dieser Fahrzeuge wesentlich erhöht. In diesem Zusammenhang müssen Änderungen an Fahrzeugen komplexer beurteilt werden. Die Verkehrs- und Betriebssicherheit sowie Datensicherheit dieser Fahrzeuge ist im Rahmen der Hauptuntersuchungen zu überprüfen. Um dies zu ermöglichen, müssen den entsprechenden Stellen die notwendigen fahrzeugspezifischen Diagnose-Informationen sowie Soll-Daten zur Verfügung gestellt werden, sodass auch die hoch- und vollautomatisierten Fahrzeuge hinsichtlich der Ausführung, des Zustands, der Funktion und der Wirkung ihrer Bauteile und Systeme einschließlich der Software-Integrität im Rahmen der Hauptuntersuchung ordnungsgemäß geprüft werden können. (Empfehlung 12)

Empfehlungen:

  1. Das Fahrverhalten automatisierter Systeme soll sich nicht von dem für natürliche Personen vorgeschriebenen Fahrverhalten unterscheiden, sofern die Fahrzeuge für Dritte nicht als automatisiert fahrende Fahrzeuge erkennbar sind (z.B. aufgrund des geringeren Abstandes bei Platooning).
  2. Bei der Zulassung der automatisierten Systeme ist in jedem Einzelfall abzuwägen, ob der zu erwartende Sicherheitsgewinn insgesamt mögliche Risiken überwiegt.
  3. Es sollen weitere Möglichkeiten eröffnet werden, den Sicherheitsgewinn der Fahrfunktionen vor deren Genehmigung zu ermitteln. Nach deren Zulassung sind die neuen Technologien durch Feldbeobachtungen zu sichern.
  4. Vom Gesetzgeber sollen die gesetzlichen Grundlagen sowie Kriterien entwickelt werden, auf deren Basis hoch- und vollautomatisierte Fahrfunktionen vor einer endgültigen Genehmigung im Realbetrieb getestet werden können.
  5. Bei Zulassung von Fahrzeugen mit automatisierten Fahrfunktionen über Ausnahmegenehmigung sind angemessene Anforderungen an die konventionelle Fahrzeugtechnik zu stellen, die sich an den Standards der technischen Regelungen der Wirtschaftskommission für Europa (ECE) orientieren.
  6. Um die sichere Bedienung automatisierter Fahrfunktionen zu gewährleisten, werden Hersteller, Normungsorganisationen und Gesetzgeber aufgefordert, einheitliche
    • Begriffe und Definitionen,
    • Bedienprinzipien,
    • Warnungen und Aufforderungen an die Nutzenden automatisierter Fahrfunktionen
    zu erarbeiten.
  7. Die Auto Fahrenden sind ausreichend darüber zu informieren, welche Systemgrenzen bestehen und unter welchen Umständen und auf welche Weise Übernahmeaufforderungen durch das System erfolgen werden und wie darauf zu reagieren ist.
  8. Es sind geeignete technische und kommunikative Maßnahmen (Mensch-Maschine-Schnittstelle) vorzusehen, damit Fahrfunktionen nicht irrtümlich oder missbräuchlich verwendet werden können.
  9. Der DVR fordert, den Begriff „Wahrnehmungsbereitschaft des oder der Fahrzeugführenden“ durch eine fachlich begründete Beschreibung der Mindestanforderungen an das Führen von Kraftfahrzeugen unter definierten Graden der Fahrzeugautomation zu ersetzen. Die Gegebenheiten für „offensichtliche Umstände“ und „bestimmungsgemäße Verwendung“ sind zu definieren.
  10. Der DVR empfiehlt dem Gesetzgeber Rahmenbedingungen zu schaffen, durch die automatisierte Fahrzeuge, die in einen Unfall verwickelt sind, bei der polizeilichen Unfallaufnahme, unter anderem über die Fahrzeugidentifikationsnummer, identifiziert und im öffentlichen Interesse die Unfälle gesondert ausgewertet werden.
  11. Es ist sicherzustellen, dass Änderungen der Software, die das Sicherheitsverhalten beeinflussen können, von der zuständigen Genehmigungsbehörde freigegeben werden und deren Software-Integrität im Rahmen der Hauptuntersuchung überprüft wird. Darüber hinaus sind diese Updates nachvollziehbar in den Fahrzeugen zu dokumentieren. Datenschutz und Datensicherheit sind zu gewährleisten. Sicherheitsrelevante Software-Updates müssen über die Fahrzeuglebensdauer zur Verfügung stehen. Halter/in bzw. Nutzer/in sollten vom System informiert werden, wenn ein Software-Update ansteht. Sie sollten zudem die Möglichkeit haben, das Update zeitlich begrenzt zu verschieben.
  12. Der Gesetzgeber soll dafür Sorge tragen, dass die erforderlichen fahrzeugspezifischen Diagnose-Informationen sowie Soll-Daten geliefert und die Prüf- und Messmittel vorgeschrieben werden, die es ermöglichen, insbesondere auch die hoch- und vollautomatisierten Fahrzeuge hinsichtlich der Ausführung, des Zustands, der Funktion und der Wirkung ihrer Bauteile und Systeme einschließlich der Software-Integrität im Rahmen der Hauptuntersuchung ordnungsgemäß zu überprüfen.

gez.
Dr. Walter Eichendorf
Präsident


1 Quelle: Ethik-Kommission, Automatisiertes und vernetztes Fahren, Bericht Juni 2017, www.BMVI.de