Abmilderung der Folgen von Abkommensunfällen auf Landstraßen durch infrastrukturelle Maßnahmen

Beschluss vom 11.10.2022 auf Basis der Empfehlungen des Vorstandsausschusses Verkehrstechnik

Einleitung

Abkommen von der Fahrbahn ist für 38% der Getöteten und Schwerverletzten auf Landstraßen ursächlich. Im Jahr 2020 kamen auf Landstraßen 1.592 Personen ums Leben, davon 606 bei Abkommensunfällen1. Das sind 22% der Getöteten im Straßenverkehr insgesamt, darunter auch ein kleiner Anteil ungeschützter Verkehrsteilnehmende außerhalb der Fahrbahn.

Die Unfallfolgen eines Abkommensunfalls nehmen durch den Aufprall auf ein Hindernis erheblich zu. Von den Personen, die in der Folge eines Fahrunfalls mit Abkommen von der Straße ums Leben kamen, starben über 90% nach dem Aufprall auf ein Hindernis, überwiegend durch einen Aufprall auf einen Baum2. Gegenüber einem Abkommensunfall ohne Aufprall auf ein Hindernis steigt die Unfallschwere durch den Aufprall an einen Baum um den Faktor 83. Die mit Abstand meisten Abkommensunfälle mit Aufprall auf ein Hindernis im Seitenraum sind Alleinunfälle. Auch wenn häufig individuelle Fahrfehler zu diesen Unfällen führen, können diese begünstigt werden durch Defizite der Infrastruktur z.B. entwässerungsschwache Zonen, enge Kurvenradien oder mangelhafte Sichtweite, aber auch durch Witterungseinflüsse etc. Dabei ereignen sich Abkommensunfälle zumeist verteilt im gesamten Straßennetz. Nur ein kleiner Teil tritt gehäuft auf, so dass hier gezielte reaktive Maßnahmen im Rahmen der Beseitigung von Unfallhäufungsstellen und -linien durchgeführt werden können. Daher sind proaktive, netzweite Maßnahmen erforderlich. Ohne die Fahrzeugführenden aus der Verantwortung zu entlassen, muss das Ziel ein sicheres Verkehrssystem (Fahrende, Fahrzeuge, Straßen) sein, in dem insbesondere die Fahrzeuge und die Infrastruktur menschliche Fehler kompensieren, Unfälle verhindern oder zumindest Unfallfolgen begrenzen.

Hierzu muss im Sinne von Vision Zero das Prinzip der fehlerverzeihenden Straße verstärkt umgesetzt werden.

Der DVR empfiehlt daher zur Vermeidung von Abkommensunfällen und zur Minderung der Unfallschwere bei Abkommensunfällen folgende infrastrukturellen Maßnahmen.

Empfehlungen

  1. Die RPS4 beschreiben die allgemein anerkannten Regeln der Technik zur Vermeidung schwerer Unfallfolgen nach Abkommensunfällen. Die Straßenbaulastträger werden aufgefordert, an Bestandsstrecken unabhängig vom Unfallgeschehen vorhandene Hindernisse im Seitenraum zu entfernen bzw. diese mit Fahrzeug-Rückhaltesystemen gemäß den Vorgaben des aktuellen Regelwerks auszustatten.

  2. Die Länder werden aufgefordert, mit Unterstützung des Bundes ein bundeseinheitliches Priorisierungskonzept zur Vermeidung von Abkommensunfällen zu entwickeln. Zur Verbesserung der passiven Sicherheit an Bestandsstrecken hat das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) hierfür bereits im Jahr 2017 ein präventives Nachrüstprogramm für Schutzeinrichtungen im Bestandsnetz der Bundesfernstraßen initiiert. Die Länder werden aufgefordert, dieses zeitnah umzusetzen und entsprechende Programme für die Straßen in ihrer Baulast zu entwickeln. Maßgebliche Faktoren für die Priorisierung können aus dem BASt-Bericht V 3495 abgeleitet werden.

  3. Neue Hindernisse innerhalb des kritischen Abstands vom Fahrbahnrand sind nach RPS grundsätzlich zu vermeiden; dies gilt auch für die Neupflanzung von Bäumen. Der DVR fordert die Einhaltung dieser Vorgabe.

  4. Zur Reduzierung der Wahrscheinlichkeit von Abkommensunfällen müssen Trassierungsmängel beseitigt werden. Dazu sollten Bestandsaudits gemäß RSAS6 (anlassbezogen auf Basis von Sicherheitsanalysen wie den ESN7 und im Vorfeld von Erhaltungsmaßnahmen) durchgeführt werden.

  1. Die Straßenbaulastträger werden aufgefordert, die Methodik der ESAB8 zur Definition auffälliger Bereiche mit Baum- und Abkommensunfällen regelmäßig anzuwenden, um die Gefahrenstellen zu erkennen, zu analysieren und zu beseitigen. Die unfallauffälligen Strecken sind dazu detailliert zu untersuchen. Neben der Beseitigung der Ursache sollten auch zusätzlich vorhandene Hindernisse abgesichert oder beseitigt sowie gezielt Maßnahmen zur Vermeidung schwerer Unfallfolgen ergriffen werden z.B. Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

  2. Bei Einrichtung von Fahrzeug-Rückhaltesystemen sind Schutzmaßnahmen für Motorradfahrende (z. B. Unterfahrschutz) gemäß MVMot9 zu berücksichtigen.

  3. Die Straßenbaulastträger werden aufgefordert, für bei Tag und Nacht sowie bei Nässe gut sichtbare Fahrbahnmarkierungen zur Erkennbarkeit des Fahrbahnrandes und des Fahrbahnverlaufes zu sorgen.

Erläuterung

Zu 1:
Die RPS sind anzuwenden:

  • für die Absicherung von Gefahrenstellen bei dem Neu-, Um- oder Ausbau von Straßen;

  • für die Absicherung von neuen Gefahrenstellen an vorhandenen Straßen (auch Brücken);

  • für Bereiche von vorhandenen Straßen (auch Brücken), in denen Fahrzeug-Rückhaltesysteme wegen Alterung erneuert werden. Reparaturen an Fahrzeug-Rückhaltesystemen aufgrund von Anfahrten stellen keine Erneuerung in diesem Sinne dar;

  • für Bereiche von vorhandenen Straßen mit Unfallhäufungen nach den Kriterien der 3-Jahres-Karte [...], bei denen die Unfallart "Abkommen von der Fahrbahn" überwiegt;

  • für Bereiche von vorhandenen Straßen, in denen sonstige Unfallauffälligkeiten vorliegen.

    Der DVR fordert darüber hinaus, die RPS präventiv im Bestand anzuwenden und alle Hindernisse zu entfernen, zu entschärfen oder abzusichern, auch wenn der entsprechende Bereich bislang nicht unfallauffällig war.

 

Zu 2:

Die Sicherheit der Verkehrsinfrastruktur hat sich an den allgemein anerkannten Regeln der Technik zu orientieren. Der Bestandsschutz für Straßen, die nach früheren Standards genehmigt und gebaut wurden, sollte nicht unbegrenzt fortbestehen. Bund und Länder werden aufgefordert, ein Priorisierungskonzept zu entwickeln und umzusetzen, um die Landstraßen im Bestandsnetz effizient auf den heutigen Stand des technischen Regelwerks zu verbessern. Um die Folgen von Unfällen mit einem Hindernis im Seitenraum zu verringern, hat das BMDV im Jahr 2017 ein präventives Nachrüstprogramm für Schutzeinrichtungen im Bestandsnetz der Bundesfernstraßen initiiert. Zur Unterstützung bei der Umsetzung auch an beengten Stellen hat die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) einen Leitfaden für Sonderlösungen zum Baum- und Objektschutz10 erstellt. Weiterhin wurde das Dokument Sonderlösungen für Schutzeinrichtungen in Einmündungsbereichen11 erarbeitet, um auch für Einmündungsbereiche, insbesondere mit kleinen Radien, Schutzeinrichtungen zu beurteilen und eine sichere Ausführung dieser Einmündungslösungen zu erzielen. Dazu sollten die Maßnahmen mit dem besten Wirkungsgrad auf den Strecken mit den größten Sicherheitspotenzialen zuerst umgesetzt werden:

  • Bauliche Maßnahmen und verkehrstechnische Ausstattung haben den größten Wirkungsgrad auf hoch belasteten Landstraßen mit entsprechend hohen Unfalldichten.

  • Je höher die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf einer Straße, desto wichtiger ist die richtlinienkonforme, sichere Gestaltung der Infrastruktur.

  • Je größer die Mängel an der aktiven Sicherheit einer Straße (Trassierung, Sichtweiten, Fahrbahnzustand), desto wichtiger ist die richtlinienkonforme, passive Sicherheit (hindernisfreie Seitenräume und Rückhaltesysteme).

Zu 3:

Der DVR stellt fest, dass auch seit dem Inkrafttreten der RPS neue Hindernisse im kritischen Abstand vom Fahrbahnrand geschaffen wurden und werden. Die Absicherung neuer Hindernisse mit Schutzeinrichtungen ist nur die zweitbeste Lösung, da auch Schutzeinrichtungen

die Unfallfolgen nach Abkommensunfällen vergrößern können, insbesondere für Motorradfahrer. Der DVR fordert deshalb, neue Hindernisse im kritischen Abstand vom Fahrbahnrand konsequent zu vermeiden.

Zu 4:

Wenngleich nicht jeder Abkommensunfall ein Fahrunfall ist, sind individuelle Fahrfehler dennoch maßgebend für diese Unfallkonstellation. Begünstigt werden diese Fahrfehler durch Defizite der Infrastruktur wie z. B. ungünstige Relationen benachbarter Lageplanelemente, entwässerungsschwache Zonen, enge Kurvenradien oder mangelhafte Sichtweite, unzureichende Griffigkeit in Verbindung mit Witterungseinflüssen, die zu Erwartungs- und Hand- lungsfehlern, wie übertriebenen Lenkreaktionen führen können.

Die Straßenbaulastträger werden aufgefordert, Streckenabschnitte mit hohem Sicherheitspotenzial nach ESN zu identifizieren. Auf diesen Streckenabschnitten sind Sicherheitsaudits nach RSAS durchzuführen, um Mängel an der Verkehrsanlage konkret zu benennen. Abschließend sind diese Mängel durch einen Maßnahmenplan zu beseitigen.

Zu 5:

Oftmals führt erst der Aufprall auf Hindernisse im Seitenraum zu den schweren Unfallfolgen von Abkommensunfällen. Auch wenn sich der Anteil der Bäume an diesen Hindernissen regional unterscheidet, ist er überall sehr hoch. Die ESAB thematisieren den Handlungsbedarf und schaffen einen Ausgleich zwischen den Interessen der Landschaftspflege, der Straßenraumgestaltung und der Verkehrssicherheit. Vorrangig sollen die Ursachen von Abkommensunfällen erfasst und bekämpft werden. Ein Schwerpunkt der Empfehlungen liegt auf Methoden, um auffällige Bereiche im Bestand aufzufinden. Als Lösungen werden bauliche, betriebliche, verkehrstechnische und straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen, Verkehrsüberwachung, Kombinationen der genannten Maßnahmen bis hin zur Verlegung von Straßen angeführt. Der DVR empfiehlt, neben der Beseitigung der Unfallursachen immer auch Maßnahmen zum Schutz vor schweren Unfallfolgen zu ergreifen; d. h. vorhandene Hindernisse zu entfernen oder richtlinienkonform abzusichern.

Zu 6:

Fahrzeugrückhaltesysteme werden entsprechend der erforderlichen Aufhaltestufe, Wirkungsbereichsklasse und Anprallheftigkeitsstufe für Pkw und Lkw dimensioniert. Für einen abkommenden Motorradfahrenden stellen sie nahezu unverformbare, sehr harte Hindernisse dar. Insbesondere die Pfosten von Fahrzeugrückhaltesystemen aus Stahl können schwerste Verletzungen verursachen, wenn ein gestürzter Motorradfahrender unter der Schutzplanke durchrutscht. Der DVR fordert deshalb, dass die Belange der Motorradfahrenden bei allen erforderlichen Schutzeinrichtungen mitberücksichtigt und zusätzliche Maßnahmen zum Schutz von Motorradfahrenden gemäß MVMot ergriffen werden.

Zu 7.

Um den Verlauf der Fahrbahn bzw. der einzelnen Fahrstreifen für Mensch und fahrzeugseitige Assistenzsysteme erkennbar zu machen, sind bei jeder Tages- und Nachtzeit sowie Witterung gut sichtbare Markierungen erforderlich.

Für den Menschen als Fahrer kann an gefährlichen Kurven oder bei unübersichtlichen Straßenverläufen die Wirkung von Markierungen zusätzlich durch weitere visuelle Elemente wie retroreflektierende Markierungsknöpfe unterstützt werden. Weiterhin können profilierte Markierungen mit haptisch/akustischer Wirkung oder Rüttelstreifen zur Vermeidung von Abkommensunfällen eingesetzt werden.

gez.
Prof. Dr. Walter Eichendorf
Präsident


3 Schreck-von Below, Benjamin: Straßenbepflanzung und Verkehrssicherheit – Ermittlung unfallbeeinflussender Merkmale auf Basis empirischer Modelle unter besonderer Berücksichtigung der Bepflanzung im Seitenraum an Landstraßen (BASt-Bericht V 349); 2021 https://opus4.hbz-nrw.de/opus45-bast/frontdoor/index/index/docId/2569

4 Richtlinien für den passiven Schutz an Straßen durch Fahrzeug-Rückhaltesysteme (RPS 2009, Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen)

5 Schreck-von Below, Benjamin: Straßenbepflanzung und Verkehrssicherheit – Ermittlung unfallbeeinflussender Merkmale auf Basis empirischer Modelle unter besonderer Berücksichtigung der Bepflanzung im Seitenraum an Landstraßen (BASt-Bericht V 349); 2021 https://opus4.hbz-nrw.de/opus45-bast/frontdoor/index/index/docId/2569

6 Richtlinien für das Sicherheitsaudit von Straßen (RSAS 2019, Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen)

7 Empfehlungen für die Sicherheitsanalyse von Straßennetzen (ESN 2003, Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen)

8 Empfehlungen zum Schutz vor Unfällen mit Anprall auf Bäume (ESAB 2006, Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen)

9 Merkblatt zur Verbesserung der Straßeninfrastruktur für Motorradfahrende (MVMOT 2001, Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen)

10 Leitfaden für Sonderlösungen zum Baum- und Objektschutz an Landstraßen 1. Aktualisierung, Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach, 02.11.2020 https://www.bast.de/DE/Publikationen/Regelwerke/Verkehrstechnik/Downloads/V4-Leitfaden-Baum-Objektschutz.pdf?__blob=publicationFile&v=3

11 Sonderlösungen von Schutzeinrichtungen in Einmündungsbereichen, Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach, 23.07.2021, VERSION: 03 https://www.bast.de/DE/Publikationen/Regelwerke/Verkehrstechnik/Downloads/Sonderloesungen-Schutzeinrichtungen.pdf?__blob=publicationFile&v=5