Schnelllieferdienste: Wie können Arbeitsunfälle verhindert werden?

Viele Faktoren von Unfällen im öffentlichen Straßenverkehr können von den Fahrerinnen und Fahrern nicht beeinflusst werden. Welche Lösungen gibt es, um Unfälle zu verhindern und Unfallfolgen zu mindern? Robert Zimmermann, Aufsichtsperson bei der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) in der Direktion Mannheim über das Unfallgeschehen im Schnelllieferdienst, die Zusammenarbeit mit der Branche und die gewonnenen Erkenntnisse für die Verkehrssicherheit.

Herr Zimmermann, was war der Auslöser, sich die Unfälle von Schnelllieferdienstfahrenden genauer anzuschauen?

Die coronabedingten Beschränkungen im stationären Handel haben das Einkaufsverhalten der Menschen verändert. Das relativ unbekannte Angebot, innerhalb weniger Minuten per App tagtägliche Einkäufe nach Hause liefern zu lassen, kam genau zur richtigen Zeit. Außerhalb Deutschlands waren solche Dienstleistungen bereits etabliert: goPuff, 2013 in Philadelphia (USA) gegründet, oder Getir, 2015 in der Türkei. Flink startete Ende 2020 in Berlin. Plötzlich gab es eine große Kundschaft und die Firmen waren sehr gefragt. Warenlager wurden im Wochentakt eröffnet, die Rider mit den auffallenden Rucksäcken gehörten von nun an zum Stadtbild, erst in Großstädten wie Berlin, Hamburg, Frankfurt und München und dann auch in kleineren Städten. Mit zunehmender Expansion stiegen die Beschäftigtenzahlen und die Zahl der Unfallmeldungen bei den Berufsgenossenschaften (BG) rasant an. Das war der Auslöser, sich das Unfallgeschehen genauer anzuschauen und Lösungen zu finden.

Welche Rolle spielt dabei das Institut für Arbeitsschutz?

Das Institut für Arbeitsschutz (IFA) der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) forscht, prüft und berät zur Prävention von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren. Es unterstützt die Aktivitäten der BGen und Unfallkassen bei der Durchführung von Untersuchungen und bei der Planung weiterer Aktivitäten oder der Entwicklung neuer Schutzkonzepte.

Wie hoch sind die Unfallzahlen?

Die DGUV nutzt die 1.000-Mann-Quote (TMQ), die die Anzahl der Arbeitsunfälle mit mehr als drei Arbeitsunfähigkeitstagen in Bezug zur Anzahl der Vollbeschäftigten setzt, um einen Vergleich der Arbeitsunfallbelastungen von unterschiedlichen Branchen zu ermöglichen. Die TMQ der bei der BGHW versicherten Mitgliedsunternehmen der Schnelllieferbranche liegt für das Jahr 2021 bei 274,1. Zum Vergleich: Die TMQ der Zeitungszusteller mit einem ähnlichen Tätigkeitsspektrum liegt im selben Zeitraum bei 58,6, die des Lebensmittelsortimentshandels inklusive Discounter bei 36,6.

Welche sind die häufigsten Unfallursachen bei Schnelllieferdienstfahrenden?

Hierauf gibt es leider keine genaue Antwort. Unfallmeldungen beschreiben zwar das Unfallgeschehen, aber selten die tatsächlichen Unfallursachen. Eine Unfallanalyse können die BGen nicht leisten. Klar ist: Ein Unfall ist immer ein multifaktorielles Geschehen, dazu gehören zum Beispiel Ablenkung, Witterungsverhältnisse, Hindernisse und Straßenverhältnisse sowie Fehlverhalten.

Wie sind Sie bei der Analyse der Unfälle vorgegangen?

Wir haben zu einem Stichtag alle der BGHW gemeldeten Arbeitsunfälle er betreffenden Unternehmen herangezogen und die Unfallanzeigen über eine Worterkennungssoftware analysiert. Außerdem standen Angaben aus Arztberichten oder der Unfallsachbearbeitung zur Verfügung. Eine statistisch valide auswertbare Anzahl an Unfallereignissen lieferte grobe Erkenntnisse.

Was können Sie uns über die Zusammenarbeit mit den Firmen berichten?

Für die bei der BGHW versicherten Mitgliedsunternehmen fanden im Jahr 2021 unter der Federführung des Berliner Landesamtes für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit Systemkontrollen in den Firmen statt, bei denen auf Augenhöhe das Projekt zu branchenspezifischen Maßnahmen zum Arbeitsund Gesundheitsschutz für das Jahr 2022 angekündigt wurde. Die Zusammenarbeit war sehr interessant und konstruktiv.

Wie hoch ist grundsätzlich das Interesse der Firmen an Fragen der Verkehrssicherheit?

Es ist offensichtlich, dass die meisten Arbeitsunfälle im öffentlichen Straßenverkehr passieren. Gleichzeitig wurde deutlich, dass Einzelpersonen Gefahren im Straßenverkehr vermeiden können, viele Faktoren jedoch nicht von den Ridern oder den Unternehmen beeinflusst werden können, zum Beispiel das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmenden, die Infrastruktur und die Witterung.

Welche Erkenntnisse haben Sie bereits gewonnen?

Im Projekt „Schnelllieferdienste“ wurden in Zusammenarbeit mit verschiedenen Playern unterschiedlichste Aktivitäten durchgeführt. Ein Versuch zum Tragen von Gelenkprotektoren ergab, dass diese Maßnahme bei Tragezeiten von bis zu vier Stunden täglich durchaus Akzeptanz bei den Ridern fand, darüber hinaus aber nicht. Eine Studie der Freien Universität Berlin zeigte, dass keine Expansion in ländliche Räume in den kommenden zehn Jahren zu erwarten ist, das Unfallgeschehen somit ein Phänomen der Ballungsräume und größeren Städte bleibt.

In Unfallauswertungen konnten Knie, Schulter und Handgelenk als meist betroffene Körperteile bei Unfällen identifiziert werden. Erste Sturzversuche mit einem Dummy betrachten auch die Sturzfolgen mit Blick auf die Lastenverteilung auf dem Rad, zum Beispiel Rucksack versus Transportbox auf dem Gepäckträger. Die Beobachtungen sollen helfen, gezielt Forschungsfragen zu definieren, die auch für den DVR interessant sind.

Wie sehen die nächsten Schritte aus?

Aus dem Projekt wurde bei der BGHW ein Themenfeld. Im Mai 2023 findet ein „Praxistag Prävention“ zum Thema Schnelllieferdienste am Institut für Arbeit und Gesundheit (IAG) in Dresden statt. Es sind dynamische Sturzsimulationen – ähnlich den bekannten Crashtests für Autos – in Planung, um genauere Kenntnisse zur Auswirkung von Fahrradunfällen auf den Körper zu erzielen und zielgerichtet Maßnahmen zu entwickeln und Schwerpunkte der Prävention zu definieren. Außerdem möchten wir mit anderen BGen und der Berliner Polizei einen Datenaustausch organisieren, um die Unfälle besser analysieren zu können.

Letztendlich sollen wissenschaftlich belastbare Informationen Grundlage für geeignete Schutzmaßnahmen werden, diese dann ins Regelwerk einfließen und dort zum Standard für eine ganze Branche werden.

Interview: Seema Mehta

Dieses Interview erschien auch im DVR Report – Fachmagazin für Verkehrssicherheit (Ausgabe 2/2023)