Walter Eichendorf: Hochschullehrer, Physiker, Weltenbummler, James-Bond-Fan und Präsident des DVR
Nach drei Jahrzehnten endet die Tätigkeit von Prof. Dr. Walter Eichendorf im DVR. Er hat als Präsident des DVR sechs Verkehrsminister aus drei Parteien erlebt, davor Statistiken zu Verkehrsunfällen ausgewertet und veröffentlicht, sehr viele Kampagnen begleitet, unzählige Interviews geführt, Shitstorms durchgestanden und einiges an Geschichten zu erzählen.
Dass ein promovierter Physiker an der Spitze einer Organisation für Verkehrssicherheit steht, liegt näher, als man denkt. Denn als Referatsleiter Statistik beim Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG, heute Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, DGUV) nahm Prof. Eichendorf bereits aufwendige Auswertungen der Unfallstatistiken vor, zum Beispiel zur Verteilung des Unfallgeschehens über die Wochentage und Uhrzeiten und die dahinterliegenden Ursachen.
Dabei reizte ihn immer wieder die Öffentlichkeitsarbeit: Er hat hunderte Artikel publiziert, Bücher geschrieben und in Fernsehsendungen mitgewirkt. Später als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des HVBG war er erst Mitglied im und dann Vorsitzender des Vorstandsausschusses ÖA des DVR. Darauf folgten die Wahl als ordentliches Vorstandsmitglied und die wichtige Vorstands-Arbeitsgruppe Vision Zero. Nach nunmehr dreizehneinhalb Jahren als Präsident an der Spitze des DVR tritt er jetzt nicht mehr an.
Geier an der Autobahn
Ein langer Zeitraum mit vielen besonderen Erinnerungen. Eine bezieht sich auf Geier an der Autobahn. „Hallo Raser, wir warten.“ Das Plakat aus dem Jahr 2000 ist vielen in Erinnerung. Es war eine der resonanzstärksten Kampagnen des DVR: So viele Reaktionen per Telefon, Fax und Post hat der DVR selten erhalten.
„Das Plakat hat eine sehr interessante Geschichte“, schildert Walter Eichendorf. „Die Entstehung der Autobahnplakate liegt in der Verantwortung eines gemeinsamen Ausschusses mit den Ländern und dem Bund.“ Eichendorf war als Öffentlichkeitsarbeiter für den DVR, dabei. Siegfried Werber, der Hauptgeschäftsführer des DVR, rief ihn an. Es gäbe ein Problem, denn es ließe sich kein Konsens über das nächste Plakatmotiv erreichen.
„Ich sagte ihm, da war doch dieses wunderbare, aber von den Pädagogen und Psychologen nicht so geliebte Geier-Plakat. Werber und ich machten uns an die Arbeit. Herr Sokoll, der damalige Hauptgeschäftsführer des HVBG, war total begeistert. Ebenso Herr Grupe, Abteilungsleiter im Bundesverkehrsministerium, der seinen Minister dafür gewann. Mit diesem Rückenwind stimmte der Plakatausschuss zu und so entstand eines der bis heute interessantesten Plakate.“
Zielgruppe dort erreichen, wo sie ist
Im Jahr 2022 sind Plakate nur ein Teil von Kampagnen, flankiert von Pressearbeit, Social-Media-Postings, Webseiten und weiteren Maßnahmen. Was sich auch im neuen Jahrtausend verändert hat, ist die Helmtragequote. Der Fahrradhelm ist im Alltag vieler Radfahrerinnen und Radfahrer angekommen. Mit einer großen Ausnahme – die der 15-bis 30-jährigen jungen Frauen, die den Helmverzicht begründen mit: unästhetisch, uncool, macht die Frisur kaputt.
„Eine Sendung, die junge Frauen in der Zielgruppe anspricht, das Thema Fahrradhelm setzt und ganz klar die Botschaft ‚Looks like shit but saves my life‘ in Englisch kommuniziert."
„So kam die Zusammenarbeit mit Heidi Klum und Germany’s Next Top Model zustande“, erinnert sich Walter Eichendorf. „Eine Sendung, die junge Frauen in der Zielgruppe anspricht, das Thema Fahrradhelm setzt und ganz klar die Botschaft ‚Looks like shit but saves my life‘ in Englisch kommuniziert.“ Gegenwind kam schnell und insbesondere von älteren Frauen und Männern aus dem Bundestag sowie aus den Medien. Eine Petition an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer und an ihn forderte den sofortigen Stopp der „sexistischen Kampagne". „Ich habe auf allen Kanälen immer wieder betont, dass diese aufgebrachten Personen nicht die Zielgruppe seien und die Zielgruppe die Motive keinesfalls als sexistisch bewertet. Die Medienresonanz war enorm, von Deutschland über Europa und die USA bis nach Australien. Und entscheidend ist: Danach hat sich die Helmtragequote in dieser jungen Altersgruppe verdoppelt!“
Mehr als 20 Prozent der Getöteten nicht angeschnallt
Richtig gute Kampagnen laufen über Jahre, damit sie überhaupt die Chance erhalten, erfolgreich zu sein. „Runter vom Gas“ ist ein Beispiel, ein weiteres ist „Hat’s geklickt?“ – 2002 für die Dauer von zwei Jahren ins Leben gerufen, um die Anschnallquote in Lkws zu steigern, die damals bei 15 Prozent lag. Heute liegt sie bei 90 Prozent und die fehlenden zehn Prozent müssen auch noch erreicht werden.
„Der Gurt verhindert keinen Unfall, der Gurt mildert aber dramatisch die Unfallfolgen und ist deswegen, so wie der Helm beim Fahrradfahren, ein echter Lebensretter.“
„Auch beim Thema Angurten darf man sich nicht täuschen lassen: Der Durchschnitt aller angeschnallten Verkehrsteilnehmenden liegt bei 97 Prozent, das Ziel wurde scheinbar erreicht“, berichtet Walter Eichendorf. „Das täuscht, denn rund 20 Prozent der im Straßenverkehr Getöteten sind nicht angeschnallt! Das zeigt ganz deutlich, dass diese sehr wenigen nicht angeschnallten Personen ein unglaublich höheres Risiko haben, wenn es zum Unfall kommt. Und da sind wir bei der gleichen Botschaft wie beim Helm: Der Gurt verhindert keinen Unfall, der Gurt mildert aber dramatisch die Unfallfolgen und ist deswegen, so wie der Helm beim Fahrradfahren, ein echter Lebensretter.“
James Bond – Real licence to speed
Neben seinem beruflichen und ehrenamtlichen Engagement hat Walter Eichendorf eine persönliche Leidenschaft: Filme mit dem britischen Geheimagenten James Bond. Der nimmt es mit dem Anschnallen und den Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht so genau. Die Geschichten sind fiktiv, aber trotzdem fragt man sich: Ist das, was dort jetzt abgelaufen ist, nur Technik und Trick? Hätte das tatsächlich Realität sein können? Die Antwort lieferte dem James-Bond-Fan Walter Eichendorf der Physiker Prof. Metin Tolan aus Dortmund: „Metin Tolan hat tatsächlich festgestellt, dass einige wirklich haarsträubende Geschichten in diesen Filmen physikalisch möglich wären. Er hat sich mit seinen Studierenden die Filme in Zeitlupe angeschaut und nachgerechnet, um die genaue Geschwindigkeit und die Abstände festzustellen. Physik und James Bond gehören zusammen! Das hat er in einem Buch zusammengefasst und bei der Feier zu meinem 60. Geburtstag präsentiert.“
Verkehrssicherheit geht vor
Vor 13 Jahren ergriff Walter Eichendorf im DVR Report (Ausgabe 2/2009) zum ersten Mal als Präsident das Wort: „Der DVR wird selbstbewusst und deutlich Position beziehen und diese energisch im politischen Raum vertreten. Im Sinne der Verkehrssicherheit darf und muss der DVR parteiisch sein: Er muss sich als Lobby für die Verbesserung der Sicherheit auf unseren Straßen verstehen.“ Auch heute gilt: Der DVR hat die Verantwortung, seiner Zeit voraus zu sein. Vorstandsbeschlüsse sollten unabhängig von politischen Trends gefasst werden und können im Moment des Beschlusses rechtlich zweifelhaft, vielleicht sogar rechtlich noch unmöglich sein.
„Der DVR hat die Verantwortung, seiner Zeit voraus zu sein.“
Die Botschaft des scheidenden Präsidenten Walter Eichendorf lautet deshalb: „Der DVR muss die richtigen Forderungen für Verkehrssicherheit stellen und das kann und muss auch unbequem sein.“ Und er hat einen Wunsch: „Wir brauchen mehr Frauen im Vorstand des DVR und endlich eine Frau im Präsidium!“