Stellungnahme zur Fragestellung möglicher geschlechterspezifischer Unterschiede in Bezug auf das Verletzungsrisiko von Pkw-Insassen
Stellungnahme
28.04.2025
Stellungnahme des DVR vom 28.04.2025 auf Basis der Empfehlungen des Vorstandsausschusses Fahrzeugtechnik unter Mitwirkung des Vorstandsausschusses Verkehrsmedizin
Einführung
In diversen Fachdisziplinen wird aktuell nach geeigneten Möglichkeiten zur weiteren Reduzierung der Anzahl Verletzter und Getöteter im Straßenverkehr gesucht. Dabei gilt es, auch weiterhin der Sicherheit von Fahrzeuginsassen bei Unfällen, die selbst trotz fortgeschrittener Technologie der Schutzsysteme in modernen Fahrzeugen auftreten können, Beachtung zu schenken. Darüber hinaus entwickeln sich Mobilitäts- und Innenraumkonzepte weiter, und auch diese sich ändernden Rahmenbedingungen sind zu erfassen und mit gegebenenfalls angepassten Maßnahmen des Insassenschutzes zu begegnen.
Geschlechterspezifische Unterschiede
Ein derzeit viel beachtetes Thema ist hierbei die Frage nach möglichen geschlechterspezifischen Unterschieden in Bezug auf das Risiko, bei Unfällen verletzt zu werden. Dabei wird vor allem ein Zusammenhang zwischen dem Verletzungsrisiko und der Anatomie der biologischen Geschlechter angenommen. Mit dieser Fragestellung beschäftigte sich eine Experten-gruppe des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) e.V. umfassend. Dabei setzte man sich mit der Relevanz auftretender Verletzungen bei verschiedenen Unfallarten und deren Bedeutung für die Beschreibung der Risiken in einschlägigen nationalen sowie internationalen Studien und Publikationen auseinander.
In einem ersten Zwischenbericht stellte der DVR 2023 fest, dass sich die meisten der zu diesem Zeitpunkt bekannten Studien nur ungenügend spezifisch mit den geschlechterspezifischen Unterschieden, welche die Anatomie von Frauen und Männern berücksichtigten, auseinandersetzten. Diese konkrete Sichtweise ist jedoch unabdingbar, da andere Merkmale im Zusammenhang mit dem Risiko, in einem Unfall verletzt zu werden, die erforderlichen Erkenntnisse überlagern und gegebenenfalls verfälschen können.
Darüber hinaus können in diesen Variablen weitere Potenziale im Zusammenhang unter-scheidbarer Risiken sowie Verbesserungen zur Reduzierung dieser Risiken verborgen sein. Diese Variablen beziehen sich auf:
- die Person (u. a. Alter, Körpergröße, BMI, …),
- das Fahrzeug (u. a. Sitzposition, Leergewicht des Fahrzeugs, Fahrzeugtyp und Modelljahr, …),
- das Unfallereignis (u. a. Aufprallart wie Frontal-, Seiten- oder Heckaufprall, Anprallrichtung, Position des Anpralls am Fahrzeug, …).
Um die unterschiedlichen Einflussfaktoren und deren Wirkung auf die Gefährdung und das Verletzungsrisiko besser verstehen und bewerten zu können, sind statistische Methoden an-zuwenden, die die einzelne Variable isolieren bzw. die Wechselbeziehungen mit anderen Variablen im statistischen Modell berücksichtigen. Dies ist in manchen Fällen, auch in den neueren Studien, jedoch nur bedingt durchgeführt worden. Oft ist das aufgrund von mangelnder Dokumentation der dafür nötigen Variablen in Datenbanken auch gar nicht möglich. Nur in einer Studie wurde bisher ein höheres Verletzungsrisiko für Frauen, unabhängig von der für Frauen im Vergleich zu Männern im Schnitt geringeren Körpergröße, aufgezeigt.
Unter anderem auch aus diesem Grund ist es der Expertengruppe des DVR bisher nicht möglich gewesen, konkrete geschlechterspezifische Risikounterschiede endgültig zu be- oder widerlegen. Eine Ausnahme stellt der Heckaufprall dar, bei dem ein höheres Verletzungsrisiko für Frauen festgestellt werden konnte.
Die Expertengruppe entschied sich dazu, Heckaufprall-Szenarien gesondert in die gesamtheitliche Betrachtung einzubeziehen, da diese aufgrund ihrer Häufigkeit und Signifikanz andere Erkenntnisse überlagern würden und häufig nicht ausreichend von Variablen, wie Körpergröße und Alter abgrenzbar sind. Darüber hinaus wird sich bereits mit erfolgversprechenden technischen Lösungen auseinandergesetzt, die nun auch in gesetzlichen Anforderungen für die Gestaltung von Fahrzeugsitzen Berücksichtigung finden sollen. Das höhere Verletzungsrisiko von Frauen beim Heckaufprall wurde bereits in den einschlägigen Gremien der UNECE (= United Nations Economic Commission for Europe/ Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa) erkannt, Lösungsmöglichkeiten ausführlich diskutiert und entsprechende Änderungen der Regulierungen adressiert.
Weitere Schritte und Empfehlungen
Nach heutigem Erkenntnisstand fällt es bei anderen Arten des Verunfallens (z. B. Front- und Seitenaufprall) schwer, geschlechterspezifische Unterschiede zu beschreiben und geeignete Verbesserungsstrategien zu formulieren. Es wird daher empfohlen, Potenziale in anderen Variablen und Merkmalen der Person, des Fahrzeugs und auch dem Unfallereignis selbst herauszuarbeiten, d.h. weitere Faktoren mit Einfluss auf die Verletzungswahrscheinlichkeit und -schwere in die Betrachtung mit einzubeziehen (z. B. Alter, Körpergröße, Gewicht, etc. – siehe oben).
Der DVR beabsichtigt daher, weiter interdisziplinär an diesen Variablen zu arbeiten. Das heißt, dass inhaltlich sowie methodisch Risikomerkmale und -gruppen sowie die kausalen Zusammenhänge für überhöhte Risiken zu identifizieren und zu bewerten sind.
Eine solche Anpassung der Fokusbereiche kann auch in EqOP (= Equality of Occupant Protection), einem informellen Arbeitskreis der GRSP-Arbeitsgruppe zur passiven Sicherheit der UNECE1 in Genf, vorgenommen werden. Deren zu Beginn wahrgenommener Fokus auf geschlechterspezifische Unterschiede und einer gegebenenfalls erforderlichen Anpassung der technischen Rahmenbedingungen zur Typgenehmigung von Fahrzeugen wurde mittlerweile durch weitere physikalische Merkmale zur Unterscheidung der Fahrzeuginsassen erweitert bzw. ergänzt.
Ein genereller, wie auch in EqOP diskutierter Bedarf zur Einführung neuer „weiblicher“ Crashtest-Dummys sollte daher speziell zur Anwendung im Zusammenhang mit Frontalcrashs nicht bedingungs- und vorbehaltslos unterstützt werden.
Das auch medial mitunter geäußerte vermeintliche Erfordernis der Einführung eines spezifisch „weiblichen“ Dummys wird argumentativ meist aus dem Umstand abgeleitet, dass heut-zutage bei Crashtests primär Dummys eingesetzt werden, die gemeinhin als „männliche“ Dummys bezeichnet werden. Diese Bezeichnung ist jedoch irreführend, da Dummys nicht per se spezifische Geschlechtsmerkmale abbilden. Durch die Nutzung verschiedener Dummys, die hinsichtlich ihrer Körpergröße, Masse, Masseverteilung, Trägheitsmomente und Körperhaltung variieren, wird vielmehr in Bezug auf die Merkmale Körpergröße und Masse statistisch (Gaußsche Glockenkurve) ein Großteil der Bevölkerung, unabhängig vom Ge-schlecht, abgebildet. Unabhängig davon kann es aber geschlechterspezifische Merkmale mit Einfluss auf die Verletzungsschwere geben (z. B. Anatomie, Muskelaufbau), die mit heutigen Dummys nicht oder nur unzureichend abgebildet werden können und für die es neuer Lösungsansätze bedarf. Auch Merkmale wie Alter und sehr hohes bzw. sehr geringes Körpergewicht und -größe werden durch die klassischen Dummys nur bedingt adressiert, wenn-gleich inzwischen das Alter über die Verletzungsbewertung und sehr geringes Körpergewicht durch den Dummy für das 5. weibliche Perzentils repräsentiert werden.
Bei der Entwicklung dieser neuen Lösungsansätze sollte bezugnehmend auf das Realunfall-geschehen evaluiert werden, ob sich Dummys oder vor allem auch virtuelle Mensch-Modelle (HBMs) entsprechend der zu adressierenden Fragestellungen eignen und im Bedarfsfall da-hingehend weiterzuentwickeln wären.
In der Zwischenzeit veröffentlichte Studien fokussieren nun auch auf die geschlechtsabhängigen Verletzungsrisiken verschiedener Organe (Leber, Milz, Nieren, Lunge, Herz). Um end-gültige Schlüsse in Bezug auf biomechanische Fragestellungen und Fragen der Rückhaltesysteme ziehen zu können, sind Studien in diese Richtung in Zukunft wertvoll.
Eine weitere Initiative für zukünftige Bewertungen anderer Variablen ist in den Prüf- und Bewertungsprotokollen von Euro NCAP wahrzunehmen, deren Arbeitsgruppen konkret neue Prüfinhalte zur Abbildung schwererer und auch älterer Insassen als Ziel zur Einführung 2026 gesetzt haben. Dabei sind z. B. auch andere Sitzpositionen zu berücksichtigen, die dem realen Verhalten des Beifahrers Rechnung tragen.
Der DVR wird auch zukünftig seine Zusammenarbeit bzw. den Abgleich mit den genannten Institutionen und Gremien fortsetzen.
Schlussfolgerungen
Geschlechtsspezifische Unterschiede sollten als eines von mehreren relevanten Kriterien verstanden werden. In den ausgewerteten Unfalldaten und Studien traten als relevanter Faktor für die Verletzungswahrscheinlichkeit und -schwere weniger die biologischen Unter-schiede in den Vordergrund, sondern vielmehr weitere Merkmale wie etwa das Alter, Körpergewicht oder Körpergröße (z. B. BMI) der Insassen. Zudem können Variablen, die mit dem Fahrzeug und dem Unfallereignis zusammenhängen, die geschlechtsspezifischen Ergebnisse beeinflussen. Es wird daher dringend empfohlen, auch diese Merkmale in die Stu-dien einzubeziehen.
Eine Empfehlung zur Einführung eines neuen Dummys, wie z. B. eine 50 %ige Repräsentanz der weiblichen Bevölkerung, um potenziell unterschiedliche Verletzungsrisiken zu adressieren, kann zum jetzigen Stand der Erkenntnisse nicht ausgesprochen werden.
Daher sollten zur Abbildung geschlechterspezifischer Unterschiede perspektivisch neue Methoden im virtuellen Umfeld unter Berücksichtigung der oben beispielhaft genannten Merk-male Beachtung geschenkt und diese gefördert werden.
Die Vorlage wurde von den Ausschüssen angenommen.
gez.
Prof. Dr.-Ing. e. h. Jürgen Bönninger
Vorsitzender des Vorstandsausschusses Fahrzeugtechnik
Dr. med. Christopher Spering
Vorsitzender des Vorstandsausschusses Verkehrsmedizin
1Die UNECE ist ein Gremium der Vereinten Nationen in welchem u.a. international verbindliche Regulierungen für die Typgenehmigung von Fahrzeugen erarbeitet und erlassen werden.