Stellungnahme anlässlich der Öffentlichen Anhörung im Deutschen Bundestag – Das Straßenverkehrsrecht reformieren

des Deutschen Verkehrssicherheitsrates

Stellungnahme

19.9.2019

Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Verkehr und Digitale Infrastruktur des Deutschen Bundestages am 25. September 2019

zum Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Das Straßenverkehrsrecht reformieren – Straßenverkehrsordnung fahrrad- und fußverkehrsfreundlich anpassen“ (Drucksache 19/8980) und zur Novellierung der Straßenverkehrsordnung (StVO)

Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat nimmt zum oben genannten Antrag und zur Novellierung der StVO wie folgt Stellung:

Der oben angegebene Antrag der Fraktion Bündnis 90 /Die Grünen steht im Lichte des Koalitionsvertrages zwischen CDU, SPD und CSU vom 12. März 2018. Darin heißt es u.a.: „Wir sehen uns der „Vision Zero“, also der mittelfristigen Senkung der Anzahl der Verkehrstoten auf null, verpflichtet. Deshalb wollen wir nach Auslaufen des „Verkehrssicherheitsprogramms 2011“ ein Anschlussprogramm auflegen. Die Umsetzung von verkehrssicherheitserhöhenden Projekten, wie z. B. „Schutzstreifen für Radfahrer außerorts“, wollen wir unterstützen. Die Kontrollbehörden des Bundes wollen wir personell besser ausstatten, um die Kontrolldichte zu erhöhen. Wir werden zur Steigerung der Verkehrssicherheit den rechtssicheren Einsatz moderner technischer Hilfsmittel wie z. B. Alcolocks ermöglichen. Nach der Einführung des neuen Punktesystems ist eine Evaluierung des Bußgeldkatalogs notwendig.“ (Seite 79) Zudem wurde festgelegt: „Wir werden die Straßenverkehrsordnung mit dem Ziel der Radverkehrsförderung überprüfen und gegebenenfalls fahrradgerecht fortschreiben einschließlich einer Innovationsklausel für örtlich und zeitlich begrenzte Pilotprojekte. Wir wollen den Nationalen Radverkehrsplan 2020 fortschreiben. Unser Ziel ist eine selbstbestimmte sichere Mobilität von Seniorinnen und Senioren.“ (S.121)

Diese Überlegungen resultieren u.a. aus der Erkenntnis, dass das Ziel des Verkehrssicherheits-Programmes des Bundes von 2011, die Zahl der im Straßenverkehr Getöteten bis 2020 zum Referenzjahr 2011 um 40 % zu reduzieren, deutlich verfehlt werden wird. Auch auf Europäischer Ebene hat der Verkehrsministerrat durch die Erklärung von Valletta 2017 verdeutlicht, dass intensivere Maßnahmen dringend erforderlich sind (vgl. Schlussfolgerungen vom 08. Juni 2017 des Rates zur Verkehrssicherheit zur Unterstützung der Erklärung von Valletta vom März 2017).

Dies hat auch die Konferenz der Verkehrsminister der Länder (VMK) erkannt und zuletzt in einem einstimmig gefassten Beschluss festgelegt: „Die Ad-hoc Arbeitsgruppe Radverkehrspolitik der Verkehrsministerkonferenz hat entsprechend der Beschlüsse der Verkehrsministerkonferenz vom 19./20. April 2018 sowie vom 18./19. Oktober 2018 einen Bericht mit konkreten Lösungsvorschlägen und zu prüfenden Fragestellungen für eine fahrradfreundliche Novelle von StVO und VwV-StVO einschließlich einer Innovationsklausel für örtlich und zeitlich begrenzte Pilotprojekte erstellt. Die Verkehrsministerkonferenz nimmt den Bericht der der Ad-hoc–Arbeitsgruppe Radverkehrspolitik zur Kenntnis. Sie sieht in den darin genannten Vorschlägen zur Novellierung von StVO und VwV-StVO einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit und Steigerung der Leichtigkeit des Radverkehrs in der Praxis (…).“ Und auch zur Verbesserung der Verkehrssicherheit „allgemein“ nimmt die VMK am 04./05. April 2019 Stellung: „Die Verkehrsministerkonferenz sieht angesichts der Getötetenzahlen im Straßenverkehr und dem voraussichtlich nicht mehr zu erreichenden Zwischenziel einer Reduktion der Anzahl der im Straßenverkehr Getöteten um 40 % bis 2020 die dringende Notwendigkeit, alle Maßnahmen mit Potential zur Erhöhung der Verkehrssicherheit zu identifizieren und auszuschöpfen.“

Der DVR begrüßt, dass auf allen politischen Ebenen offensichtlich die Notwendigkeit erkannt wurde, dass dringender Handlungsbedarf zur Verbesserung der Verkehrssicherheit besteht und erhofft sich durch die Novellierung der StVO in diesem Sinne bedeutende Fortschritte.

Zusammenfassende Bewertung (zu I. des Antrags von Bündnis 90/ Die Grünen)

Der vorliegende Antrag enthält eine Reihe von Vorschlägen zur Änderung des Verkehrsrechts, welche geeignet sind, die Sicherheit des Radverkehrs zu verbessern. Besonders zu begrüßen ist die Zielrichtung, die Gleichrangigkeit der Verkehrsteilnahmearten im Grundsatz und auch in einzelnen Verhaltensvorschriften besser zu verankern. Einige Forderungen geben, zumindest in den vorgelegten Formulierungen, Anlass zur Sorge, dass mit ihnen negative Auswirkungen auf die Sicherheit des Verkehrssystems zu erwarten wären. Dies wird im Einzelnen kommentiert.

An jeweils thematisch passender Stelle werden auch Absichten des Bundesministers für Verkehr und Digitale Infrastruktur zur Novellierung der StVO kommentiert, welche vom Bundesverkehrsministerium (BMVI) an die Presse kommuniziert wurden. Auch vor einer offiziellen Verbändeanhörung bekannt gewordene Änderungsvorschläge des BMVI wurden hier aufgenommen, da diese in Fachkreisen bereits diskutiert werden. Die Kommentierungen des DVR können daher nur vorläufiger Natur sein und werden nach Vorliegen eines Referentenentwurfes überprüft und in einer öffentlichen Stellungnahme gegenüber dem BMVI erneut erörtert. Zur Verbesserung der Sicherheit der Fahrrad Fahrenden wird es außerdem notwendig sein, die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) sowie ggf. das Straßenverkehrsgesetz (StVG) als Ermächtigungsgrundlage anzupassen. Dies wurde vom Bundesverkehrsminister auch bereits am 07. Juni 2019 angekündigt.

Für alle nachfolgend aufgeführten Verhaltensvorschriften gilt, dass diese nur dann die Sicherheit des Straßenverkehrs verbessern können, wenn die Verkehrsteilnehmenden umfassend darüber aufgeklärt werden, damit der Normadressat auch die an ihn gerichteten Anforderungen erfüllen kann. Zudem muss eine flächendeckende Verkehrsüberwachung stattfinden. Da sich – fahrlässig oder vorsätzlich – nicht alle am Verkehr Teilnehmenden an die Verkehrsregeln halten, ist eine spürbare Sanktionierung für etwaiges Fehlverhalten erforderlich und geboten. Daher werden in der folgenden Kommentierung auch Bezüge zur Bußgeldkatalog-Verordnung (BKAtV) hergestellt.

Zu den einzelnen Forderungen (zu II. des Antrags von Bündnis 90/ Die Grünen)

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. das Straßenverkehrsgesetz mit dem Ziel anzupassen, dass in der Straßenverkehrs-Ordnung Belange des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und Sicherheit sowie der Lebensqualität gleichrangig berücksichtigt werden und Kommunen höhere Freiheitsgrade erhalten, um städtebauliche Ziele zu verwirklichen, den Umweltverbund zu stärken und die Entwicklung einer neuen multimodalen Mobilitätskultur zu unterstützen;
 

DVR: Das Ziel der Strategie „Vision Zero“, null Verkehrstote, welche durch den Koalitionsvertrag zwischen CDU, SPD und CSU zum Auftrag der Bundesregierung geworden ist, sollte an geeigneter Stelle ins Verkehrsrecht aufgenommen werden und die zentrale Richtschnur für Verwaltungshandeln und den Erlass von Verhaltensregeln sein. Dies würde den einstimmig gefassten Beschluss der Verkehrsministerkonferenz umsetzen (s.o.).

Verkehrssicherheit
2. in die Straßenverkehrs-Ordnung den durch Rechtsprechung bereits manifestierten Mindestabstand beim Überholen von Radfahrenden und zu Fuß Gehenden von 1,5 Metern aufzunehmen (§ 5 Abs. 4 Satz 2 StVO) und eine Pflicht, beim Überholen von Radfahrenden, wenn möglich, die Fahrspur zu wechseln, in der StVO zu verankern;

DVR: Die Normierung eines Mindestüberholabstands ändert zwar nicht die bereits bestehende Rechtslage, hat aber eine Signalfunktion von großem Wert und wird daher vom DVR befürwortet. Als Überholabstand gegenüber Rad Fahrenden sind jedoch bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h oder mehr aufgrund der höheren Differenzgeschwindigkeiten mindestens zwei Meter als notwendiger Abstand anzusehen.

Klargestellt werden sollte, dass bei Überholvorgängen auf einem Fahrstreifen Kraftfahrzeuge auf die Gegenfahrbahn und bei zwei oder mehr Fahrstreifen auf den nächstgelegenen ausweichen müssen. In der Praxis wird sich dies aufgrund der Platzverhältnisse regelmäßig ergeben. Die Notwendigkeit eines Mindestüberholabstands gegenüber Zu Fuß Gehenden wäre zunächst in einer Detailauswertung von Unfalldaten zu prüfen.

Zum BMVI-Vorschlag: Ein Verkehrszeichen für ein Überholverbot einspuriger Fahrzeuge wäre bei Klarstellung des Mindestüberholabstands obsolet, da an Engstellen gemäß § 5 Absatz 4 S. 2 StVO ein Überholen ohnehin verkehrswidrig ist. Statt beim Mindestüberholabstand von zwei Metern auf die Außerortslage abzustellen, sollte hier gefährdungsorientiert generell auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit (ab 50 km/h) zurückgegriffen werden.

Zusätzlich sollte in § 5 Absatz 6 S. 2 StVO klargestellt werden, dass nur wer ein langsameres Kraftfahrzeug führt, die Geschwindigkeit an geeigneter Stelle ermäßigen, notfalls warten muss, wenn nur so mehreren unmittelbar folgenden Fahrzeugen das Überholen möglich ist. Die geltende Formulierung „Fahrzeuge“ umfasst dagegen auch Fahrräder (vgl. § 16 StVZO).

3. in der Straßenverkehrs-Ordnung klarzustellen, dass das Rechtsfahrgebot im Sinne des § 2 StVO für Radfahrende die Benutzung des rechten Fahrstreifens, nicht aber die Benutzung der rechten Seite des rechten Fahrstreifens gebietet;

DVR: Hier wird die Einhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstands zum ruhenden Verkehr in Verbindung mit einem ausdrücklich vorgeschriebenen Mindestüberholabstand als ausreichend angesehen, um Rad Fahrenden einen sicheren Raum auf der Fahrbahn zu schaffen. Konsequenterweise müsste jedoch nicht nur der Mindestüberholabstand, sondern auch der Abstand zum rechten Fahrbahnrand (wie von DVR und Bundesverkehrsministerium gefordert: mindestens ein Meter) normiert werden. Dadurch ließe sich die Gefahr durch das unvorsichtige Öffnen von Autotüren („Dooring-Unfälle“) verringern. Zusätzlich würden die Sichtbeziehungen an Kreuzungen und Einmündungen verbessert, wenn Fahrrad Fahrende sich nicht zu weit am rechten Fahrbahnrand befänden.

Das Rechtsfahrgebot sollte nicht außer Kraft gesetzt werden, da es zum leichten und sicheren Überholen auch durch andere Rad Fahrende (und Nutzende von Elektrokleinstfahrzeugen) dient und beim Anhalten (nicht nur an Kreuzungen) den Ort des Aufstellens auf der Fahrbahn und die Wiederaufnahme des Verkehrsflusses mitbestimmt. Fraglich wäre zudem, ob die Aufhebung des Rechtsfahrgebots nicht zu einem Verstoß gegen Artikel 10 Nr. 3 des „Wiener Übereinkommens über den Straßenverkehr“ von 1968 führen würde.

4. das Verbot des Parkens und Haltens an Kreuzungen auf mindestens 5 Meter vor und hinter Beginn der Gehwegrundung (anstelle der Schnittpunkte der Fahrspuren) zu erweitern, um bessere Sichtbeziehungen und damit eine erhöhte Verkehrssicherheit für alle Verkehrsteilnehmenden zu gewähren;

DVR: Das Unfallgeschehen zeigt eine große Häufigkeit von Kollisionen an Kreuzungen und Einmündungen, wobei die Verbesserung der Sichtbeziehungen einen zentralen Ansatzpunkt für eine Verbesserung der Sicherheit der Infrastruktur darstellt. Daher wird eine Erweiterung der Park- und Halteverbote in Bereichen von Kreuzungen und Einmündungen befürwortet.

Im Einzelfall adäquat wäre die Festlegung von Maßen in Abhängigkeit der jeweiligen zulässigen Höchstgeschwindigkeit und weiterer örtlicher Gegebenheiten. Um jedoch auch ohne Straßenmarkierungen den Pkw Fahrenden eine klare Regelung vorzugeben, sollte ein Abstand von zehn Metern zum Schnittpunkt der Fahrspuren festgelegt werden. Letztere Bezugsgröße hat den Vorteil, dass sie bei den Verkehrsteilnehmenden bekannt und hinreichend klar ist.

Zum BMVI-Vorschlag: Verschiedene Maße, eine Änderung der Bezugsgröße auf die Eckausrundung und die Formulierung „soweit in Fahrtrichtung rechts neben der Fahrbahn ein Radweg baulich angelegt ist, der als solcher entweder mit Zeichen 237, 240 oder 241 benutzungspflichtig angeordnet oder mit dem Sinnbild „Radverkehr“ gekennzeichnet ist.“ werden als weitaus zu komplex angesehen, um eine Befolgung durch die am Verkehr Teilnehmenden in der Praxis erwarten zu können.

5. ein Verkehrszeichen einzuführen, das die Einrichtung von Ladezonen für Lieferfahrzeuge auf vorhandenen Verkehrsflächen, jedoch abseits des fließenden Verkehrs, ermöglicht und im Sinne eines absoluten Halteverbots mit Ausnahme von gewerblichen Be- und Entladevorgängen wirkt;

DVR: Die verstärkte Einrichtung von Ladezonen und eine eindeutige Kennzeichnung durch ein entsprechendes Sinnbild wird als mögliche und geeignete Maßnahme gesehen, um Konfliktsituationen mit dem wachsenden Lieferverkehr sowie entsprechende Überhol- und Ausweichmanöver zu verringern.

Zum BMVI-Vorschlag: Auch die Einführung eines Sinnbildes für Lastenräder wird vor diesem Hintergrund befürwortet, um entsprechende Ladezonen einrichten zu können.

6. die Gefahr von Lkw-Abbiegeunfällen zukünftig zu reduzieren, indem
a. in der Straßenverkehrs-Ordnung verankert wird, dass Lkw während des Abbiegevorgangs innerorts eine maximale Geschwindigkeit von 7 km/h fahren dürfen,

DVR: Eine angepasste Geschwindigkeit muss zwar schon nach geltendem Recht eingehalten werden. Die Klarstellung, dass innerorts die Schrittgeschwindigkeit nicht überschritten werden darf, ist jedoch neben der Verbesserung von Kreuzungsdesigns und der Schaltung von Lichtzeichenanlagen (mit ausreichendem Vorlauf für den Radverkehr) eine sinnvolle Maßnahme, um die besondere Gefahr des Abbiegens schwerer Fahrzeuge zu verdeutlichen und einzudämmen.

Dadurch würde erstmals die bislang nur von der Rechtsprechung definierte Schrittgeschwindigkeit normiert. Auf keinen Fall darf diese über 7 km/h liegen, um den Schutz Zu Fuß Gehender aufrechtzuerhalten. Dazu ist die Differenzgeschwindigkeit zu Menschen, die teilweise mobilitätseingeschränkt sind, ausreichend gering zu halten.

b. in der Straßenverkehrs-Ordnung ausdrücklich die Einführung von Verkehrssicherheitszonen zugelassen wird, in denen Zufahrtsbeschränkungen für Lkw und Fahrzeuge angeordnet werden, die bestimmte Sicherheitsstandards zum Schutz von Fahrradfahrenden und zu Fuß Gehenden nicht erfüllen und ggf. ein entsprechendes Verkehrszeichen eingeführt wird;

DVR: Um eine vorgeschlagene „Verkehrssicherheitszone“ bewerten zu können, müsste diese näher definiert werden. Der Unfallatlas zeigt, dass sich entsprechende Verkehrsunfälle nicht allein auf Innenstadtbereichen häufen. Wirksamer wäre daher, die fahrzeugtechnischen Sicherheitsstandards flächendeckend zu steigern, etwa durch einen erneuten Aufwuchs des Förderprogramms für Abbiegeassistenten. Auch Infrastrukturlösungen wie eine Umgestaltung von Kreuzungs- und Einmündungsbereichen sowie vor allem die Reduktion der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h, auf Straßen auf denen sich Kraftfahrzeuge und Rad Fahrende direkt begegnen, sind wirksame Maßnahmen.

7. es den Kommunen zu ermöglichen, leichter über die Einführung von Tempo 30 innerorts auf allen Straßen zu entscheiden;

DVR: Eine größere Freiheit der Verkehrsbehörden bei der Anordnung einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h wird befürwortet, um eine auch nach Sicherheitskriterien sinnvolle durchgängige Netzplanung zu ermöglichen. Die Voraussetzungen zur Anordnung von Geschwindigkeitsbeschränkungen (§ 45 StVO in Verbindung mit der VwV-StVO und den entsprechenden Anwendungserlassen der Länder) bleiben auch nach der letzten diesbezüglichen StVO-Novelle 2016 sehr restriktiv. Es sollte den Kommunen jedoch möglich gemacht werden, auch durch die Anordnung von Geschwindigkeitsbegrenzungen Strecken für den Radverkehr sicher und attraktiv zu machen. Dazu sollte für entsprechende Rad- und Fußverkehrskonzepte auf den Nachweis bereits geschehener schwerer Unfälle oder eines bereits bestehenden hohen Anteil des Radverkehrs („Henne-Ei-Problem“) verzichtet werden. Stattdessen sollte eine Genehmigung von Rad- und Fußverkehrsplänen durch die nach Landesrecht zuständigen Behörden ausreichen, den örtlichen Verkehrsbehörden die verkehrsrechtlichen Anordnungen im Einzelfall zu überlassen.

Bei Verkehrsunfällen mit über 30 km/h (und bei Kollisionen gegebenenfalls höherer Differenzgeschwindigkeit) steigt die Wahrscheinlichkeit, insbesondere für „ungeschützte“ Verkehrsteilnehmende, getötet zu werden, deutlich an. Zusätzlich sollte daher in einem großflächigen Feldversuch längerer Dauer innerorts (z.B. auf der Fläche einer gesamten Stadt) eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h als Regelfall angeordnet werden. Nur an Hauptverkehrsstraßen mit ausreichender Trennung der Verkehrsteilnahmearten sollte als Ausnahme eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h angeordnet werden.

Vorfahrt für umwelt-, klima- und gesundheitsfreundliche Verkehrsarten

8. in der Straßenverkehrs-Ordnung klarzustellen, dass mit Verkehr, dessen Flüssigkeit nicht beeinträchtigt werden soll, alle Verkehrsarten, insbesondere auch Fuß- und Radverkehr, gemeint sind und dass beim Konkurrieren mehrerer Verkehrsarten diejenigen Verkehrsarten, die sicherer, umwelt-, klima- und gesundheitsfreundlicher sind, zu bevorrechtigen sind;

DVR: Eine Klarstellung der Gleichrangigkeit von Verkehrsarten im Verkehrsrecht könnte in einzelnen Bereichen eine positive Wirkung auf die Rechtsanwendung haben. Der hier gemachte Vorschlag, dann aber doch wieder einzelne Verkehrsarten zu bevorrechtigen, könnte dagegen neue, umständliche Begründungserfordernisse für die Verkehrsbehörden schaffen. Stattdessen sollte den Kommunen eine ausreichende Entscheidungsfreiheit für eine umfassende, durchgängige Netzplanung eingeräumt werden, welche den angesprochenen Zielen unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten am besten entspricht. Dort wo verschiedene Verkehrsarten zusammentreffen, ist die Infrastruktur für alle Beteiligten möglichst sicher auszugestalten. Dabei haben ungeschützte Verkehrsteilnehmende ein besonderes Schutzbedürfnis. Wenn eine bauliche Trennung der Verkehrsarten nicht möglich ist, wird in der Praxis regelmäßig eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h geboten sein.

9. die Regelungen der Straßenverkehrs-Ordnung zum Queren von Fahrbahnen durch zu Fuß Gehende zugunsten der Flüssigkeit des Fußverkehrs anzupassen und
a. die Einrichtung von Querungsstellen zu erleichtern,
b. Vorrang für zu Fuß Gehende bei Rechts-vor-links-Kreuzungen und Einmündungen sowie an Vorfahrtsstraßen gegenüber Fahrzeugen, die in eine Nebenstraße abbiegen, zu verankern;

DVR: Das Ziel, die Flüssigkeit des Fußverkehrs zu verbessern, wird unterstützt. Noch unklar bleibt, inwiefern die Einrichtung von Querungsstellen erleichtert werden müsste. Eine diesbezügliche Überprüfung der Regelungen in der VwV-StVO wird befürwortet.

Der in Buchstabe b. geforderte Vorrang ergibt sich aus § 9 Absatz 3, Satz 3 StVO. Dort explizit den Vorrang zu benennen, würde zwar die Klarheit verbessern, in der Sache aber keinen Unterschied darstellen. Bei Alltagsbeobachtungen zeigt sich hier ein erhebliches Defizit in der Regeltreue bzw. anscheinend schon in der Regelkenntnis der Verkehrsteilnehmenden. Entsprechende Aufklärung ist hier sicherlich erforderlich.

10. das Rechtsabbiegen an roten Ampeln für Radfahrende grundsätzlich bei besonderer Rücksichtnahme auf den Vorrang für den Fußverkehr zu ermöglichen;

DVR: Der Inhalt dieses Vorschlags wird als unnötiges Sicherheitsrisiko angesehen. Hier sind die Interessen der Zu Fuß Gehenden als schwächste Verkehrsteilnehmende vorrangig zu schützen. Unbedingt ist daher auf die Pflicht hinzuweisen, vor dem Abbiegen anzuhalten und andere Verkehrsteilnehmende nicht zu behindern. Es bestehen durchaus Zweifel, ob das Anhalten durch die Rad Fahrenden in der Praxis durchzusetzen wäre. Auch ein ausreichender Schutz der Rad Fahrenden selbst muss stark bezweifelt werden. Darüber hinaus hätte diese Regelung die verheerende Signalwirkung, dass sogar so eindeutig sicherheitsrelevante Anordnungen wie „rot“ abstrahlende Lichtzeichenanlagen für Rad Fahrende keine Bedeutung haben. Ein Erodieren der generellen Regelakzeptanz muss daher erwartet werden.

Zum BMVI-Vorschlag: Die Einführung des Grünpfeiles für den Radverkehr kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht befürwortet werden, weil die hierzu durchgeführte Pilotuntersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen noch nicht abgeschlossen und veröffentlicht worden ist. Die jetzige Einführung des Grünpfeils für den Radverkehr würde die ergebnisoffene Forschungsstudie schon im Vorwege obsolet machen.

11. Einbahnstraßen für den Radverkehr grundsätzlich in beide Richtungen zu öffnen und eine Einschränkung dieser Regelung nur mit Begründung zuzulassen;

DVR: Die Umsetzung  dieses Vorschlags dürfte die Sicherheit erhöhen, da bei einer solchen Regelung grundsätzlich mit entgegenkommenden Fahrrad Fahrenden zu rechnen wäre. Alltagserfahrungen zeigen, dass Kfz Fahrende häufig von entgegenkommenden Fahrrad Fahrenden überrascht werden, da sie die uneinheitliche Freigabe für Fahrräder nicht wahrnehmen. Daher wird eine generelle Öffnung mit der Möglichkeit einer begründeten Einschränkung vorgezogen. Der Verkehrsbehörde muss es aber bei Sicherheitsbedenken möglich bleiben, ohne komplexe Begründungserfordernisse, die Einfahrt in Gegenrichtung für Radfahrende vollständig zu verbieten. Dies sollte in der Regel dann geschehen, wenn in einer Einbahnstraße eine zulässige Höchstgeschwindigkeit über 30 km/h angeordnet ist.

Zum BMVI-Vorschlag: Elektrokleinstfahrzeuge sollten hier konsequenterweise als Kraftfahrzeuge behandelt werden, für die ein Befahren in Gegenrichtung ausgeschlossen ist.

12. grundsätzlich das Befahren des rechten Fahrstreifens mit mehreren Fahrrädern nebeneinander zu ermöglichen und dies entsprechend der StVO anzupassen;

DVR: Die bisherige Regelung wird häufig missverstanden. Viele Kraftfahrzeug Führende gehen fälschlicherweise davon aus, dass ein Nebeneinanderfahren von Radfahrenden generell verboten ist. Nebeneinander Rad Fahrende behindern nicht, wenn der Führer des Kraftfahrzeugs aufgrund mangelnder Breite der Fahrbahn und einzuhaltendem Überholabstand gar nicht überholen dürfte.

Eine Klarstellung, dass Fahrrad Fahrende grundsätzlich nebeneinander fahren dürfen, ist daher sinnvoll. Ohne weitere Einschränkung könnte jedoch ein Überholen durch schnellere Fahrzeuge (auch Fahrräder) als Selbstzweck verhindert werden, wenn ein Überholen auf einem anderen Fahrstreifen nicht möglich ist. Das würde dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme und einer verkehrsartneutralen Ermöglichung der Leichtigkeit des Verkehrs zuwiderlaufen. Die Einschränkung auf den rechten Fahrstreifen sollte gestrichen werden, damit die Regel nicht vom Vorhandensein mehrerer Fahrstreifen abhängt.

Zum BMVI-Vorschlag: Die Regelung, hier eine unnötige Behinderung auszuschließen (Umkehr des bisherigen Regel-Ausnahme-Verhältnisses) wird entsprechend der obigen Ausführungen befürwortet.

13. die Beförderung aller Personen unabhängig von deren Alter auf Fahrrädern, die baulich dafür geeignet sind, zuzulassen;

DVR: Ohne weitere Definitionen der „baulichen“ Eignung ist dieser Vorschlag kritisch zu sehen. Eine Beförderung von schweren Personen mit Lastenrädern kann diese schnell an fahrphysikalische Grenzen bringen und sollte nur nach sorgfältiger Abwägung zugelassen werden. Die Zulassung von Fahrradrikschas zu vereinfachen, könnte dann befürwortet werden, wenn insbesondere für den gewerblichen Personentransport die Schutzpflicht gegenüber den Passagieren auf hohem Standard geregelt würde (passive Fahrzeugsicherheit, Anforderungen an Bremsen etc.). Auch die Eingliederung ins Verkehrssystem ist dabei zu bedenken (ausreichend dimensionierte Infrastruktur, Verringerung der Differenzgeschwindigkeiten etc.).

14. ein Verkehrszeichen sowie eindeutige Regelungen für Radschnellwege einzuführen; Entscheidungsfreiheit für Städte und Kommunen erhöhen

DVR: Diesem Vorschlag wird zugestimmt, um insbesondere an Querungsstellen die Klarheit und Eindeutigkeit der Verkehrssituation zu verbessern, sofern nicht durch bauliche Maßnahmen eine selbsterklärende Infrastruktur geschaffen werden kann.

15. § 45 StVO zum Zweck der Erhöhung der Entscheidungsfreiheit für Kommunen hin zu einer sichereren, umwelt- und klima- und gesundheitsfreundlichen Verkehrsführung anzupassen und dabei insbesondere
a. klarzustellen, dass die Umwidmung von Fahrbahnen und Parkplätzen nicht im Widerspruch zum allgemeinen Recht von Verkehrsteilnehmenden steht, öffentliche bzw. dem öffentlichen Verkehr gewidmete Straßen uneingeschränkt zu nutzen,
b. klarzustellen, dass es keinen Entzug des Gemeingebrauchs darstellt, wenn eine Umwidmung zugunsten einer Verbesserung der Bedingungen des Fußverkehrs, des Radverkehrs, des öffentlichen Personennahverkehrs oder der Aufenthaltsqualität geschieht,
c. in Absatz 9 Satz 3 die Wörter „nur“ und „erheblich“ zu streichen;

DVR: Grundsätzlich wird eine Öffnung des § 45 StVO befürwortet, insbesondere um den Kommunen ausreichend Freiheiten einzuräumen, eine nach Sicherheitsbelangen ausgerichtete, verkehrsmittelübergreifend gestaltete Netzplanung umzusetzen. Vgl. auch die Kommentare zu 7. und 8.

16. die Einrichtung von Fahrradstraßen in der StVO sowie der Verwaltungsvorschrift zu erleichtern, die Nachweispflicht des Radverkehrs als vorherrschende Verkehrsart zu streichen, Vorrangregelungen sowie bauliche Maßnahmen für Durchfahrtsbeschränkungen von Pkw vorzusehen bzw. anzuregen sowie Fahrradzonen einzuführen;

DVR: Die Forderung nach einer Erleichterung der Einrichtung von Fahrradstraßen ist zu unterstützen. Bauliche Maßnahmen als Durchfahrtsbeschränkungen von mehrspurigen Kfz können dann die Sicherheit erhöhen, wenn sie selbst keine (Kollisions-)Gefahr für den Radverkehr darstellen.

Fahrradzonen können nur dann als sinnvolle Erweiterung der Fahrradstraßen angesehen werden, wenn diese im Sinn einer fahrradfreundlichen Netzplanung und entsprechenden Bevorrechtigung sowie tatsächlichen Ausschlusses des Kfz-Durchgangsverkehrs angeordnet und durchgesetzt werden. Als „halbherzige“ Maßnahme könnte es dagegen zu verstärkten Konflikten mit dem Kfz-Verkehr kommen.

17. Begegnungszonen für fuß- und radfreundlichen Mischverkehr einzuführen;

DVR: Der Vorschlag wird nicht unterstützt. Die bisher von den Anwendern von Shared Space veröffentlichten Unfallzahlen und Wirksamkeitsdaten sind nicht überzeugend, weil in der Regel kleine Zahlen anstehen und keine Kontrollgruppen beachtet wurden. Das Shared Space-Prinzip „Sicherheit durch Verunsicherung der Verkehrsteilnehmer“ konnte in den dem DVR bekannten Fällen keinen ausreichenden Schutz der schwächeren Verkehrsteilnehmenden ermöglichen.

18. die Experimentierklausel (§ 45 Abs. 1 Nr. 6 StVO) dahingehend zu überarbeiten bzw. klarzustellen, dass sie Städten ermöglicht,
a. verkehrliche Maßnahmen vor Ort für eine Experimentierphase zu testen, auch wenn keine konkrete Gefahr für Sicherheit und Ordnung besteht und auch ohne dass hierfür der Nachweis von Erforderlichkeit und Eignung der Maßnahme im Vorfeld erbracht werden muss,
b. verkehrliche Maßnahmen, die der Verkehrssicherheit, der Förderung von umwelt-, klima- und gesundheitsfreundlichem Verkehr oder der Aufenthalts- und Erholungsqualität dienen, für eine Experimentierphase einzuführen, auch wenn diese noch nicht durch Verkehrsgesetze möglich sind; wirksame Sanktionen

DVR: Die grundsätzliche Zielrichtung wird unterstützt (vgl. Kommentare zu 7., 8. und 15.). Die Wirksamkeit einer Neufassung der „Experimentierklausel“ sollte vorab im Detail mit den kommunalen Spitzenverbänden erörtert werden.

19. die Bußgeldkatalog-Verordnung dahingehend zu überarbeiten, dass
a. Falschparken auf Rad- und Fußwegen sowie in Kreuzungsbereichen, Überholen ohne den nötigen Seitenabstand und unachtsames Türöffnen,
b. die Behinderung des Verkehrsflusses von Radfahrenden, zu Fuß Gehenden, im Rollstuhl Fahrenden oder von weiteren nicht motorisierten Fortbewegungsarten,
c. das Be- und Durchfahren von Straßen, wie Fahrradstraßen, die ausschließlich für Anliegerverkehr zugelassen sind, zu deutlich höheren Bußgeldern führen.

DVR: Die Forderung nach einer Überarbeitung des Sanktionensystems wird uneingeschränkt unterstützt. Allerdings fehlt insgesamt ein Gesamtkonzept zur Reform der Sanktionen gegen Verkehrsverstöße, wie auch von der Verkehrsministerkonferenz mehrfach von der Bundesregierung eingefordert. Dieses müsste gefährdungsorientiert ausgestaltet sein, indem Verkehrsverstöße anhand des Grad einer Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit (Schadenspotenzial und Eintrittswahrscheinlichkeit) gewichtet werden.

Zum BMVI-Vorschlag: Sehr begrüßt wird ein deutlich sanktioniertes generelles Halteverbot auf Schutzstreifen, um die entsprechenden Konflikte und Ausweichmanöver durch Radverkehr und Elektrokleinstfahrzeuge zu vermeiden.

Zu weiteren bekannt gewordenen Vorschlägen des BMVI, die über den Antrag hinausgehen

„Fahrgemeinschaften“ auf Bussonderfahrstreifen: Die Möglichkeit einer Freigabe von Busspuren für Kfz, die mit mindestens drei Insassen besetzt sind, wird kritisch gesehen. Vorrangig sollte der ÖPNV gestärkt werden, der eine besonders sichere Art der Fortbewegung darstellt. Würden Pkw (noch zusätzlich zu Taxis) die Spur nutzen, würden sie den langsameren Bus, insbesondere an den Haltestellen, wo ein besonderes Schutzbedürfnis gegenüber den Passagieren zu gewährleisten ist, überholen. Auch zusätzliche Spurwechsel zum Überholen von Bussen wären einem sicheren Verkehrsfluss abträglich. Über die Zulassung von Elektrokleinstfahrzeugen sollte richtigerweise die Verkehrsbehörde entsprechend der Bedingungen vor Ort entscheiden.

Abstellen bzw. Parken von Fahrrädern und weiteren Fahrzeugen: Vor dem Hintergrund, dass zu Fuß Gehenden, insbesondere Kindern, seh- und mobilitätseingeschränkten Personen, im Rahmen der Ermöglichung ihrer Mobilität, zukünftig wieder ein größerer Schutzraum zur Verfügung gestellt werden soll, bedarf die Frage, wo Zweiräder (Fahrräder, Motorräder, Elektrokleinstfahrzeuge) und Dreiräder geparkt bzw. abgestellt werden sollen, einer breiten gesellschaftlichen Debatte. Die Entscheidung der Kommunen, geeignete Flächen für Stellplätze auszuweisen, sollte nicht durch generelle Verbote in der StVO eingeschränkt werden.

„Haifischzähne“: Der Bedarf nach einer derartigen Straßenmarkierung wird bislang nicht erkannt. Dagegen sollte den örtlichen Behörden ermöglicht werden, Radverkehrsanlagen farblich konsistent zu gestalten, insbesondere durch Hervorhebung von Kreuzungs- und Einmündungsbereichen.

Nichtbilden und Missbrauch der Rettungsgasse: Die Verschärfungen der Sanktionen werden sehr begrüßt.