„Die Vision Zero lebt“

DVR-Kolloquium zu einer international erfolgreichen Strategie

Keine Toten und Schwerverletzten im Straßenverkehr: Das ist der Kern der Verkehrssicherheitsstrategie Vision Zero, die der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) seit 2007 seiner Arbeit zugrundelegt. Unter dem Dach des „Safe System Approach“ ist sie eine international erfolgreiche Strategie. Sie bildet in vielen Ländern und Unternehmen die Grundlage nicht nur für die Verkehrssicherheitsarbeit, sondern auch für die Arbeitswelt. Wie sieht die Umsetzung der Vision Zero in der Praxis aus? Welche konkreten Maßnahmen sind gefordert, welche Steuerungsinstrumente sind zur Umsetzung dieser Strategie geeignet? Diesen Fragen widmete sich das DVR-Kolloquium „Vision Zero in der Praxis – eine international erfolgreiche Strategie“ am 7. Dezember 2016 im Umweltforum in Berlin. Unterstützt wurde die Veranstaltung von DEKRA und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), fachlich begleitet vom Internationalen Transport Forum (ITF) der OECD. Moderiert wurde das Kolloquium von Professor Peter König von der Hochschule Trier.

DVR-Präsident Dr. Walter Eichendorf sagte bei der Begrüßung der rund 120 Gäste, dass beim Thema Prävention über den nationalen Tellerrand hinausgeschaut werden müsse: „Gute Beispiele und Erfahrungen erfolgreicher Maßnahmen zur Vision Zero aus dem Ausland müssen genutzt werden. Eine fehlerverzeihende Infrastruktur zum Beispiel kann das Unfallrisiko enorm senken.“ Außerdem könne die moderne Fahrzeugtechnik, zum Beispiel Notbremsassistenzsysteme, einen wichtigen Beitrag für mehr Sicherheit auf unseren Straßen leisten. Ganz entscheidend sei auch eine möglichst flächendeckende Verkehrsüberwachung. „Mit zunehmendem Überwachungsdruck steigt die Regelakzeptanz“, so der DVR-Präsident. Über 50 Prozent aller Unfälle könnten verhindert werden, wenn die Regelgeschwindigkeiten eingehalten würden. Dr. Eichendorf wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nicht angepasste Geschwindigkeit Ursache Nummer eins bei den Unfällen mit Todesfolge sei.

Um die Vision Zero in der Verkehrssicherheitsarbeit zu verankern, bedarf es eines kulturellen Wandels. „Wir können und wollen nicht hinnehmen, dass Menschen ums Leben kommen, weil sie mobil sein möchten“, sagte Dr. Hans Michael Kloth vom ITF. Angesichts der dramatisch wachsenden Opferzahlen in den Schwellenländern und den stagnierenden Ergebnissen in den Bemühungen um eine weitere Senkung der Unfallzahlen sei es genau der richtige Zeitpunkt, über Vision Zero zu sprechen. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die ITF-Studie „Zero Road Deaths and Serious Injuries“.

Interaktive Vision-Zero-Landkarte

„Die Vision Zero hat ein ambitioniertes Ziel, ist aber keine Utopie. Es gibt Städte, die dieses Ziel bereits erreicht haben“, ergänzte Andreas Kraus von DEKRA. Es brauche also eine klare Zielsetzung, aber auch den Willen, konkrete Maßnahmen umzusetzen. „Der Worte sind genug gewechselt, nun lasst uns endlich Taten sehen“, forderte Kraus.
Sein DEKRA-Kollege Walter Niewöhner stellte die interaktive Vision-Zero-Landkarte vor. Der Unfallforscher zeigte auf, dass es in Deutschland bereits eine Reihe von Städten gibt, die ein Jahr ohne Verkehrstote geblieben sind, zum Teil sogar mehrfach. „Die DEKRA Vision-Zero-Map ist ein Instrument, mit dem die Realisierung dieser Strategie in den Städten weltweit in zahlreichen Ländern angezeigt werden kann. Was sich in den kleinen Städten abspielt, ist in der Summe bedeutender als die Situation in den großen Städten“, erklärte Niewöhner. Im Zusammenhang mit Verkehrssicherheit werde meist nur über Daten von Getöteten und Verletzten geredet. „Wir zeigen stattdessen mit der Karte die Bereiche, in denen Verkehrssicherheit funktioniert. Es handelt sich um eine positive Darstellung der Verkehrssicherheit, die mit einem Motivationsschub verbunden sein könnte, nach dem Motto: Das müsste doch auch bei uns machbar sein“, blickte der Technikexperte hoffnungsvoll in die Zukunft.

Umsetzung der Vision Zero

Was genau unter der Vision Zero und dem „Safe System Approach“ zu verstehen ist, erläuterte Peter Larsson vom Schwedischen Zentralamt für Transport. Die Vision Zero sei als ganzheitliches Konzept zu verstehen und bedeute einen Paradigmenwechsel. Es gehe nicht um ein quantitatives Ziel, sondern darum, das System Straßenverkehr so zu gestalten, dass Fehler möglichst keine fatalen Folgen haben. „Der Mensch wird im Straßenverkehr nie fehlerfrei agieren und der menschliche Körper ist nun einmal verwundbar“, so der Experte. Es komme auf ein gutes Zusammenspiel von Geschwindigkeitsbegrenzungen, elektronischen Fahrerassistenzsystemen und der sicheren Gestaltung von Straßen an. Schutzplanken vor Bäumen oder Mittelleitplanken auf Landstraßen sowie die Einrichtung von Zwei-plus-Eins-Landstraßen (man fährt abwechselnd auf zwei Spuren, um gefahrlos überholen zu können) hätten die Sicherheit in Schweden deutlich erhöht, erklärte sein Landsmann Matts-Åke Bellin vom Schwedischen Amt für Verkehrswesen. Seit Ende der 1990er Jahre seien mittlerweile rund 3.000 Kilometer des schwedischen Straßennetzes mit solchen Straßen ausgestattet.

Um die Vision Zero zu erreichen, sei die politische und gesellschaftliche Unterstützung wichtig. In Schweden seien die Vorreiter der Vision Zero gerade von vielen Expertenkollegen belächelt worden: „Es war die größte Herausforderung, die Fachwelt von diesem Konzept zu überzeugen, weniger die Politiker und Verkehrsteilnehmer.“ Seit 1997 ist die Vision Zero durch das in diesem Jahr vom schwedischen Parlament verabschiedete Gesetz die Grundlage der schwedischen Verkehrspolitik.

Inspiriert von den Erfolgen in Schweden spielt die Vision Zero auch auf EU-Ebene eine wichtige Rolle, wie Szabolcs Schmidt von der Generaldirektion Mobilität und Verkehr der EU-Kommission berichtete. „Im demokratischen Prozess ist das Konzept der Vision Zero implementiert worden und es gibt gute Ansätze zur weiteren Erhöhung der Verkehrssicherheit.“ Als Beispiele nannte er automatische Geschwindigkeitsbegrenzer oder Gurterinnerer auch auf der Rückbank der Fahrzeuge.
Besonders wichtig sei ihm, neben der Reduktion der Anzahl der Getöteten auch die schwerverletzten Unfallopfer im Blick zu behalten. Dies unterstützte auch ETSC-Geschäftsführer Antonio Avenoso. Die Zahl der Schwerverletzten in Europa sei bekannt, der nächste Schritt müsse eine konkrete Zielvorgabe zur Reduzierung dieser Zahl sein. „Einige Länder haben bereits eine solche Vorgabe formuliert. Der ETSC hat als Ziel eine Reduzierung um 35 Prozent vorgeschlagen, das wäre ähnlich ambitioniert wie bei der Reduzierung der Getötetenzahlen“, sagte Avenoso. Er konnte aktuell eine gute Nachricht übermitteln: Am 5. Dezember habe EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc verkündet, dass 2017 unter der EU-Präsidentschaft von Malta ein Reduktionsziel für die schwerverletzten Unfallopfer formuliert werden soll.

Rolle der Geschwindigkeit

Welche Rolle sichere Geschwindigkeiten bei der Umsetzung der Vision Zero spielen können, erläuterte Dr. Henk Stipdonk vom Niederländischen Forschungsinstitut für Straßenverkehrssicherheit (SWOV). Er präsentierte Vorher-Nachher-Vergleiche zur sicheren Gestaltung von Straßen mit unterschiedlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen in den Niederlanden. Für diese Umgestaltung der Infrastruktur hätten insgesamt rund 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestanden. „Die Geschwindigkeit muss der Funktion der Straße angepasst werden. Das Design der Straße muss eine sichere Geschwindigkeit bedingen, vor allem auf Hochgeschwindigkeitsstraßen“, sagte Dr. Stipdonk.

Die wichtige Funktion der Verkehrsüberwachung für eine sichere Systemgestaltung verdeutlichte Joël Valmain, interministerieller Delegierter für Straßenverkehrssicherheit in Frankreich. Er berichtete über die Erfolge in der Verkehrssicherheitsarbeit, nachdem der damalige Präsident Jacques Chirac ab 2002 automatische Verkehrsüberwachung forciert hat. Derzeit gibt es in Frankreich 4.387 Kameras, stationär und mobil.
Interessant auch die Zahlen, die Valmain zum grenzüberschreitenden Verkehr vorlegte: In Frankreich werden rund 25 Prozent aller Verkehrsverstöße von ausländischen Fahrerinnen und Fahrern begangen, in den Monaten Juli und August sind es sogar 50 Prozent. Daher begrüßt Frankreich die EU-Richtlinie zur grenzüberschreitenden Ahndung von Verkehrsverstößen.

Potenziale der Fahrzeugsicherheit

Das Konzept der Vision Zero ist ohne eine ausgeprägte Fahrzeugsicherheit nicht denkbar. Die Potenziale in diesem Bereich wurden in einer Diskussionsrunde von Dr. Tjark Kreuzinger (Toyota Motor Europa), David Ward (Global New Car Assessment Programme, Global NCAP), Antonio Avenoso (Europäischer Verkehrssicherheitsrat ETSC) und Klaus Machata (Kuratorium für Verkehrssicherheit) beleuchtet. Moderne Sicherheitsfeatures seien wichtig beim Autokauf, auch bei Fahrzeugflotten in Unternehmen und im öffentlichen Sektor. Der Anteil der geschäftlich genutzten Fahrzeuge in Europa liege bei rund 50 Prozent. Nach drei bis vier Jahren werden sie in den privaten Sektor verkauft und erhöhen damit die Sicherheit des gesamten Fahrzeugbestandes. Die Technikexperten waren sich einig, dass sich die Investition in die Fahrzeugsicherheit auch betriebswirtschaftlich für die Unternehmen lohne. In Anlehnung an den Return on Investment gebe es auch einen Return on Prevention. Mit Blick auf Fahrerassistenzsysteme waren sich die Fachleute einig, dass mehr Aufklärung und Wissen über die Funktionalität der unsichtbaren Helfer notwendig sei.

Die Grundannahme der Vision Zero, dass der Mensch im Zentrum des Handelns steht, griff Dr. Torkel Bjørnskau vom Norwegischen Institut für Transportwirtschaft auf. In Norwegen sei ein wichtiger Schritt die starke Absenkung der Geschwindigkeiten gewesen. „Das hat einen großen Rückgang der Unfallzahlen bewirkt“, sagte Dr. Bjørnskau.

Vision Zero in Betrieben

Wie die Vision Zero in der betrieblichen Praxis eingesetzt wird, berichteten Alexander Kay Steinberg von der Spedition Edgar Graß und Ludwig Berger von der Braas Monier Group (weltweit tätiger Hersteller und Anbieter von Baustoffen für Dächer sowie von Dachzubehör).
Durch eine nachhaltige Präventionsarbeit in der Spedition Graß konnten die Verkehrssicherheit erhöht und der Krankenstand um zwei Prozentpunkte gesenkt werden und es gebe weniger Kundenreklamationen. „Den Fahrern wurden technische Hilfen in Form von Assistenz- und Komfortsystemen an die Hand gegeben, außerdem finden umfassende Schulungsmaßnahmen statt. Darüber hinaus leistet sich das Unternehmen einen eigenen Fahrsicherheitstrainer“, erläuterte Steinberg. Er benannte aber auch Aspekte, die das Transportgewerbe nach wie vor negativ beeinflussen: Dazu gehören das negative Image des Berufskraftfahrers, die schwierige Parkplatzsituation, der zum Teil schlechte Umgang mit den Fahrern an der Rampe sowie die fehlende Flexibilität der Lenk- und Ruhezeiten.

Eine ausgeprägte Sicherheitskultur gibt es auch in der Braas Monier Group. Schlüsselfaktor sei ein klares Bekenntnis der Unternehmensführung zur Vision Zero, erläuterte Berger. Jeder Manager setze sich messbare, persönliche Arbeitssicherheitsziele. Nach einem Unfall, aber auch nach jedem Beinahe-Unfall, würden die Ursachen umfassend analysiert, um daraus wirksame präventive Maßnahmen ableiten zu können.

Rückblick des Vaters der Vision Zero

Abschließend blickte der „Vater der Vision Zero“, Claes Tingvall, der für das Schwedischen Amt für Verkehrswesen tätig war, zurück und berichtete aus seinem reichen Erfahrungsschatz. „Es gab nie einen Plan für Vision Zero, es waren immer wieder günstige Gelegenheiten, die genutzt wurden“, beschrieb er die Entwicklung in Schweden. Viele Verbesserungen seien aus anderen Bereichen, zum Beispiel der Arbeitssicherheit oder der Luftfahrt abgeschaut worden. Und es sei kein leichter Weg gewesen: „Eventuell hätten wir das Vorhaben nicht Vision Zero nennen sollen, denn das provoziert einige Menschen. Viele waren wütend, viele haben uns ausgelacht, aber heute kann man sagen, es war richtig“, sagte Tingvall. Sehr wichtig sei gewesen, die politische Ebene mit ins Boot zu holen. Es seien auch Fehler gemacht worden, aber das Konzept habe überlebt und das sei entscheidend. Ein Grundsatz seines Handelns sei immer gewesen: „Diskutieren ist schön, aber man muss auch handeln.“

In seinem Schlusswort griff DVR-Präsident Dr. Eichendorf einen Punkt heraus, „der einen riesigen Hebel darstellt“: „Die Hälfte der verkauften Fahrzeuge sind Pool-Fahrzeuge. Das eröffnet andere Beschaffungsentscheidungen, bei denen nicht die Ledersitze, sondern die Sicherheitsausstattung im Vordergrund steht. Gerade die Fahrzeuge der öffentlichen Auftraggeber sollten in dieser Hinsicht besser ausgestattet sein als der Durchschnitt der Fahrzeuge.“ Dies bringe in kurzer Zeit eine Durchdringung des Gebrauchtwarenmarktes.
Nach einem Tag intensiven Austausches fiel sein Fazit klar aus: „Die Vision Zero lebt. Mit dieser Strategie sind wir auf dem richtigen Weg. Nun gilt es, die brachliegenden Potenziale, die in einer richtigen Systemgestaltung stecken, gemeinsam mit der Politik zu nutzen.“