Verkehrsbeeinflussungsanlagen verbessern Sicherheit und Qualität des Verkehrs auf Autobahnen

Beschluss vom 30. April 2013 auf der Basis einer Empfehlung des Vorstandsausschusses Verkehrstechnik vom 14. März 2013

Deutscher Verkehrssicherheitsrat – 2013

Erläuterung

Verkehrspolitisch besteht gegenüber Verkehrstelematik eine sehr hohe Erwartungshaltung. Die EU-Kommission will mit ihrem auch national umzusetzenden ITS-Aktionsplan (Intelligent Transport Systems) einen Beitrag dazu leisten, das Verkehrsgeschehen effizienter, ökologischer und sicherer abwickeln zu können, vorhandene Infrastruktur optimal zu nutzen, die Verkehrsteilnehmer umfassend, aktuell und leicht zugänglich zu informieren und den Verkehr gezielt und dynamisch zu steuern. In Deutschland soll dies insbesondere auf Grundlage des „IVS-Rahmen Straße“ (Intelligente Verkehrssysteme) erfolgen.
Nach intensiven Diskussionen im Vorstandsausschuss Verkehrstechnik über bestehende und zukünftige IVS-Technologien wurde die Arbeitsgruppe Verkehrsmanagement beauftragt, sich zunächst mit der Thematik Verkehrsbeeinflussungsanlagen (VBA) zu beschäftigen und Handlungsempfehlungen zu formulieren.

Bereits Mitte der 1970er Jahre wurden die ersten Streckenbeeinflussungsanlagen auf Autobahnen in Deutschland errichtet. In den folgenden Jahrzehnten konnte der Bestand auf ca. 2.500 km Richtungsfahrbahnen (etwa 10% des gesamten Autobahnnetzes) in allen Bundesländern erweitert werden. Im Rahmen des Projektplans Straßenverkehrstelematik will das BMVBS bis 2015 weitere 1.000 km Richtungsfahrbahnen und zahlreiche Knotenpunkte mit VBA ausstatten lassen. Ziel jeder VBA ist die Erhöhung der Verkehrssicherheit und die Verbesserung der Verkehrsqualität. Die Wirkungsmechanismen sind je nach Anlagentyp unterschiedlich:

Verkehrsbeeinflussungsanlage1Wirkungsmechanismus2
Netzbeeinflussung (NBA) mit Hilfe von dynamischen Wegweisern mit integrierter Stauinformation (dWiStA) bzw. additiven oder substitutiven Wechselwegweisern (WWW)Gleichmäßige und verträgliche, großräumige Lenkung und ggf. Verlagerung der Verkehrsnachfrage im Autobahnnetz, Vermeidung von Staus und staubedingten Unfällen
Streckenbeeinflussung (SBA) zur Regelung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und Aktivierung von Lkw-Überholverboten, Fahrstreifensperrungen, GefahrenwarnungenHarmonisierung des Verkehrsflusses sowie Separation des Lkw- und Pkw-Verkehrs zur Maximierung der Leistungsfähigkeit,
Verhinderung von Unfällen durch frühzeitige Warnung der Verkehrsteilnehmer vor Stau und widrigen Witterungsverhältnissen, bzw. Absicherung von Unfall- oder Baustellen sowie Reduzierung von Staus
Temporäre Seitenstreifenfreigabe (TSF)kurzfristige Bereitstellung zusätzlicher Streckenkapazität bei angepasster Betriebsgeschwindigkeit
Knotenpunktbeeinflussung (KBA) in Form von variabler Fahrstreifenzuteilung oder Zuflussregelung an Anschlussstellen (ZFR)Anpassen der Strecken- bzw. Rampenkapazitäten an die Verkehrsnachfrage, Stabilisierung des Verkehrsflusses auf hoch belasteten Streckenabschnitten

VBA sind überwiegend für den automatisierten Betrieb ausgelegt. Durch geeignete Sensorik werden die aktuelle Verkehrsbelastung und -qualität sowie Umfelddaten erfasst. Komplexe Algorithmen sorgen für die Steuerung der Anlagen. Die Information der Verkehrsteilnehmer erfolgt über unterschiedliche Typen von Wechselverkehrszeichen (WVZ), Lichtzeichengeber (LZG), vollgrafische oder zeilenorientierte Freitextanzeigen, Großprismen in Wegweisungstafeln, die über oder neben den Fahrstreifen der Richtungsfahrbahn angebracht sind. VBA werden überwiegend im 24/7 Betrieb von Personal zentral überwacht. Neben der automatischen Steuerung sind auch manuelle Eingriffe möglich und notwendig, insbesondere für die Netzsteuerung, die Fahrstreifensperrung, die Warnung vor Unfällen und die temporäre Freigabe des Seitensteifens.

Über die Jahre wurden zahlreiche Verfahren für die Wirksamkeitsschätzung (ex ante) und Wirksamkeitsberechnung (ex post) beschrieben3. Voraussetzung für die Genehmigung und Finanzierung der bislang realisierten Anlagen war jeweils ein hohes volkswirtschaftliches Wirkungspotenzial hinsichtlich Unfall- und Staukosten. Die Wirksamkeit der Anlagen wurde im Rahmen diverser Untersuchungen belegt.

Die Anzeigen von Strecken- und Knotenpunktbeeinflussungsanlagen sind verkehrsrechtliche Anordnungen; die Einhaltung kann überwacht und Verstöße können geahndet werden. Insbesondere bei hohen Verkehrsbelastungen ist z. B. die Harmonisierung der Geschwindigkeit erfolgreich, weil bereits wenige Verkehrsteilnehmer, die die zulässige Höchstgeschwindigkeit einhalten, die Fahrgeschwindigkeit auf allen Fahrspuren synchronisieren können.
Dennoch wird aus zahlreichen Meinungsäußerungen der Kraftfahrer (z.B. von Automobilclubmitgliedern) deutlich, dass die Verständlichkeit und damit auch die Akzeptanz der dynamischen Anzeigen für die Verkehrsteilnehmer noch nicht optimal gelöst sind. Die Kritik, die aus Nutzersicht vor allem die SBA trifft, lässt sich folgenden Punkten zuordnen:

  • Der Verkehrsteilnehmer erlebt an aufeinanderfolgenden Anzeigequerschnitten aus seiner Sicht zusammenhanglos wechselnde Geschwindigkeitsbeschränkungen, mitunter auch in Abfolge mit ausgefallenen (dunklen) Anzeigen. Gleichzeitig erscheint ihm die Verkehrsstärke in seinem Pulk hinsichtlich Dichte und Geschwindigkeit konstant zu sein. Verkehrsteilnehmer mutmaßen, dass die dynamischen Geschwindigkeitsbeschränkungen Ursache für Staus und Auffahrunfälle sind.
  • Die zulässige Höchstgeschwindigkeit wird beschränkt, obwohl nach dem Empfinden des Verkehrsteilnehmers die Verkehrsstärke auch höhere Geschwindigkeiten zulassen würde. Der Grund für die Geschwindigkeitsbeschränkung (z. B. Steigerung der Leistungsfähigkeit, nächtlicher Lärmschutz) wird nicht ausreichend kommuniziert.
  • Die Anlage zeigt Wetterwarnungen (Glätte, Nebel) an, die mit der aktuellen, lokalen Witterungssituation nicht übereinstimmen. Die korrespondierende Geschwindigkeitsbeschränkung wird als Gängelung empfunden.
  • Die Seitenstreifenfreigabe wird auch bei geringen bis mittleren Verkehrsstärken aktiviert. Die damit einhergehende Geschwindigkeitsbeschränkung wird als unnötige Einschränkung empfunden. Die beobachtete Verkehrsnachfrage könnte nach Ansicht des Verkehrsteilnehmers auch ohne Geschwindigkeitsbeschränkung auf den regulären Fahrstreifen bewältigt werden.
  • Fahrstreifensperrungen aufgrund Unfall oder Baustelle werden nicht umgehend nach Räumung der Unfallstelle bzw. Abschluss der Baumaßnahme wieder aufgehoben bzw. der Fahrstreifen wird zu lange vor Einrichtung der Baustelle gesperrt.
  • Die dynamische Geschwindigkeitsbeschränkung in einem Abschnitt stimmt nicht mit der temporären, statischen Geschwindigkeitsbeschränkung in einer Baumaßnahme überein.
  • Verkehrsteilnehmer sind unsicher, welche Geschwindigkeitsbeschränkung am Ort einer Verkehrsüberwachungsmaßnahme gültig war. Sie fühlen sich dem Anlagenbetreiber und der Ordnungsbehörde ausgeliefert, weil sie keinen Nachweis für das Schaltbild parat haben, das nach ihrer Erinnerung angezeigt wurde. Dem Verkehrsteilnehmer ist unklar, welcher Anzeigequerschnitt (stromauf oder stromab) an der Messstelle maßgeblich ist, insbesondere im Zusammenhang mit Umschaltvorgängen oder ausgefallenen Anzeigen.

Eine Reihe weiterer Punkte wird von den Verkehrsteilnehmern auf den Straßen nur selten wahrgenommen. Dennoch sind auch hier noch Verbesserungspotenziale zu sehen:

  • Die überregionale, auch länderübergreifende4 und transnationale Zusammenarbeit in der Verkehrsinformation und Verkehrsbeeinflussung ist noch ausbaufähig. Dies gilt sowohl für die eher kleinräumige Streckenbeeinflussung als auch die großräumige Netzsteuerung.
  • Die Komplexität der Anlagen und Verkehrsabläufe erfordern ein entsprechend ausgebildetes Bedienpersonal. Eine fortlaufende Weiterbildung auf den aktuellen Stand der Technik muss sichergestellt sein. Besonders hohe Anforderungen bestehen diesbezüglich bei der Netzbeeinflussung, die i. d. R. nicht für den automatisierten Betrieb ausgelegt ist.
  • Erfahrungen der Länder zur Qualitätssicherung werden bundesweit zu wenig genutzt.
  • Die Entwicklung in der Informations- und Kommunikationstechnik schreitet rasant voran. Die wesentlichen technischen Regelwerke für VBA<5 sind veraltet und decken aktuelle Entwicklungen nicht ab. Sie wurden daher durch zahlreiche neuere Hinweispapiere6 ergänzt. Die Aktualisierung und Zusammenfassung aller VBA-Richtlinien in einem integrierten Handbuch muss dringend abgeschlossen werden.
  • Insbesondere die im Merkblatt für die Ausstattung von Verkehrsrechnerzentralen und Unterzentralen (MARZ) dargestellten Algorithmen für die automatisierte Erkennung von Störungen entsprechen nicht mehr dem Stand der Technik. Mit den Hinweisen zum Einsatz von Steuerungsverfahren in der Verkehrsbeeinflussung (FGSV, 2012) ist soeben eine Übersicht aller aktuell genutzten Verfahren zur Situationserkennung und Steuerung veröffentlicht worden. Es ist jedoch völlig offen, wie und wann alle VBA im Bestand an den aktuellen Stand der Technik angepasst werden, da hiermit ein großer Aufwand verbunden ist.

Beschluss

Verkehrsbeeinflussungsanlagen (VBA) haben nachweislich einen großen, positiven Einfluss auf die Verkehrssicherheit und die Verkehrsqualität auf Autobahnen. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) empfiehlt hierzu:

Ausbau von VBA
Die Ausstattung weiterer kritischer Autobahnabschnitte mit VBA wird vom DVR ausdrücklich begrüßt. Der auch finanziell hinterlegte Projektplan Straßenverkehrstelematik des BMVBS stellt eine gute Grundlage für die Ausstattung der deutschen Autobahnen mit weiteren VBA dar.

Qualitätssicherung von VBA
Der DVR empfiehlt, parallel dazu auch die Qualität der bereits bestehenden Anlagen zu überprüfen und auf den heutigen Stand der Technik anzuheben. Dementsprechend müssen auch die Regelwerke angepasst werden. I. d. R. werden neue Anlagen nach dem aktuellen Stand der Technik ausgeschrieben und beschafft. Dies gewährleistet jedoch nicht die zeitnahe Sanierung der Bestandsanlagen. Der DVR begrüßt daher, dass im Rahmen des Projektplans Straßenverkehrstelematik auch gezielt die Optimierung der Bestandsanlagen gefördert wird. Hierbei sind länderübergreifende Erfahrungen auszutauschen und im Sinne der Qualitätssicherung optimal zu nutzen.

Qualifikation des Personals in den Verkehrsrechnerzentralen
Verkehrsrechnerzentralen haben sich von einem Leitstand für technische Anlagen zum Verkehrsmanagementarbeitsplatz weiterentwickelt. Der DVR fordert, zur Qualifizierung der Operatoren in den Verkehrsrechnerzentralen Mindestanforderungen an die fachliche Ausbildung – insbesondere in verkehrstechnischer Hinsicht – zu formulieren und eine geregelte Fortbildung sicherzustellen.

Verbesserung der Nutzerakzeptanz
Die Akzeptanz und damit auch die Befolgungsraten der Verkehrsteilnehmer steigen mit dem Verständnis der Ziele und der Funktionsweise von VBA. Dies kann durch breit angelegte Informations- und Aufklärungskampagnen verbessert werden. Der DVR empfiehlt, parallel zu prüfen, wie die Informationsdarbietung insbesondere in den Streckenbeeinflussungsanlagen und die Vernetzung mit Navigationssystemen noch optimiert werden können. Auf die Widerspruchsfreiheit (Konsistenz), die Nachvollziehbarkeit (Kohärenz) und damit die Verständlichkeit der Anzeigen aus Nutzersicht ist beim Betrieb von Streckenbeeinflussungsanlagen verstärkt zu achten.

gez.
Dr. Walter Eichendorf
Präsident


1 Eigene, mit der BASt abgestimmte Definitionen
2 Eigene, mit der BASt abgestimmte Beschreibungen
3 Hinweise zur Wirksamkeitsabschätzung und Wirksamkeitsberechnung von Verkehrsbeeinflussungsanlagen; FGSV Verlag; 2007 sowie Begleitforschung und Ergänzung des Merkblatts 'Ermittlung der Wirksamkeit von Verkehrsbeeinflussungsanlagen'; Busch, Grosanic, Dinkel, Schieferstein, Stadler; 2009
4 Easyway Long Distance Corridors (LDC) bzw. Länderübergreifende Initiative für Strategische Anwendungen im Verkehrsmanagement auf Verkehrskorridoren (LISA) unter Führung des Landes Hessen.
5 Richtlinien für Wechselverkehrszeichenanlagen an Bundesfernstraßen (RWVA), 1997
Richtlinien für Wechselverkehrszeichen an Bundesfernstraßen (RWVZ), 1997
Merkblatt für die Ausstattung von Verkehrsrechnerzentralen und Unterzentralen (MARZ), 1999
Hinweise zur Strategieanwendung im dynamischen Verkehrsmanagement; FGSV Verlag; 2011
Hinweise für Zuflussregelungsanlagen; FGSV Verlag; 2008
Hinweise zur Qualitätsanforderung und Qualitätssicherung der lokalen Verkehrsdatenerfassung für Verkehrsbeeinflussungsanlangen; FGSV Verlag; 2006
Hinweise zu variablen Fahrstreifenzuteilungen – Anwendungsbeispiele und Einsatzmöglichkeiten; FGSV Verlag; 2003
Hinweise zur Datenvervollständigung und Datenaufbereitung in verkehrstechnischen Anwendungen; FGSV Verlag; 2003
Hinweise zur Strategieentwicklung im dynamischen Verkehrsmanagement; FGSV Verlag; 2003
Hinweise für neue Verfahren zur Verkehrsbeeinflussung auf Außerortsstraßen; FGSV Verlag; 2000