Notfallversorgung von Unfallopfern

Beschluss vom 22.05.2019 auf der Basis der Empfehlung des Vorstandsausschusses Verkehrsmedizin

Deutscher Verkehrssicherheitsrat – 2019

Beschluss

  • Die Traumaversorgung von Verkehrsunfallverletzten sollte vor dem Hintergrund der anstehenden Reform der Notfallversorgung sowie der zunehmenden Privatisierung und Spezialisierung der Krankenhäuser einen hohen Stellenwert behalten.
  • Die Notrufabfrage muss so strukturiert werden, dass eine dem Ereignis angepasste Disposition der notwendigen Einsatzkräfte bereits initial erfolgen kann.
  • Dafür muss dem Disponenten in der Leitstelle ein Instrumentarium, z.B. eine spezielle Software, an die Hand gegeben werden, welches ihm anhand des Meldebildes ermöglicht, geeignete Krankenhäuser auszuwählen. Damit soll erreicht werden, dass entscheidende Rettungsmittel nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt nachgefordert werden müssen und wertvolle Zeit verloren geht.
  • Für eine adäquate Versorgung vor Ort sollten, wenn erforderlich, maximale technische (RTW über DIN-Norm) und personelle Ressourcen (Notärzte) bereitgestellt werden.
  • Die Rettungsdienste müssen in die Lage versetzt werden, den Patienten schnell, sicher und schonend in ein nahegelegenes Traumazentrum zu transportieren. Eine zielgerichtete und direkte Kommunikation zwischen dem notärztlichen Personal und dem Traumaleader der Zielklinik sollte gewährleistet werden.
  • Unfallverletzte sollten eine qualitativ hochwertige Traumaversorgung in entsprechenden (zertifizierten) Traumazentren erhalten.
  • Die Versorgung von Unfallopfern aufgrund von Straßenverkehrsunfällen sollte bereits in der Gesetzgebung (z.B. Rettungsdienstgesetze der Länder, künftiges Gesetz zur Reform der Notfallversorgung in Deutschland) als ein Sonderfall geregelt werden, damit deutlich wird, dass ihm nicht standardisiert begegnet werden kann.
  • Studien zu Behandlungsstrategien und Entscheidungsalgorithmen in der Notfallversorgung von Unfallopfern sollten über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden, um medizinische Erfolge und soziökonomische Dimensionen ermitteln zu können.

Erläuterungen

Das Bundesministerium für Gesundheit beabsichtigt, mit einer Reform eine bedarfsgerechte Notfallversorgung sicherzustellen, wobei der Rettungsdienst und die stationären Notfalleinrichtungen entlastet und Doppelstrukturen abgebaut werden sollen.

Verkehrsunfallopfer mit schweren Verletzungen bis hin zur verletzungsbedingten Lebensgefahr sind medizinische Notfälle, die eine interdisziplinäre und interprofessionelle qualitativ hochwertige Versorgung erfordern. Unfallbedingte Verletzungen sind in den ersten vier Lebensdekaden die häufigste Todesursache in Industrienationen.1 Im Kindesalter sind die Folgen von Verkehrsunfällen deutschlandweit die häufigste Todesursache und häufigster Grund für schwere Behinderungen.2 Bei den Überlebenden ist neben Muster und Schwere der Verletzungen auch die schnelle notärztliche Versorgung entscheidend für die spätere gesellschaftliche Reintegration und die sozioökonomischen Folgen wie Fehlzeiten am Arbeitsplatz, Arbeitsunfähigkeit und psychische Folgen.
Im Jahr 2017 gab es über 152.000 rettungsdienstliche Einsätze aufgrund von Straßenverkehrsunfällen - ein Anteil von 1,1% des Gesamteinsatzaufkommens von 13,9 Millionen Einsätzen.3 Solche Einsätze sind aufgrund ihrer Komplexität nicht mit einer standardisierten internistischen Notfallversorgung gleichzusetzen.

Die Versorgung des Unfallopfers durch Notärzte in Verbindung mit einem Rettungsteam an der Unfallstelle ist essenziell für die medizinische Stabilisierung von Schwerverletzten und kann nicht ausschließlich durch Notfallsanitäter erbracht werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund spezieller Patientengruppen wie pädiatrischer oder geriatrischer Unfallopfer, die ein hochkompetentes und erfahrenes notärztliches Personal benötigen, das über spezielle Fertigkeiten in der Notfallversorgung dieser komplexen Patientengruppen verfügt. Sowohl für die Stabilisierung vor Ort als auch für die ressourcenoptimierte Weiterbehandlung von Patienten nach einem Verkehrsunfall ist es unerlässlich, dass der Zustand des Verunfallten an der Einsatzstelle vollumfänglich in seinem Verletzungsmuster und der daraus resultierenden Pathophysiologie richtig eingeschätzt wird. Für die Sicherstellung einer derartigen adäquaten Versorgung von Verunfallten ist es notwendig, dass die Leitstellendisposition mithilfe eines Instrumentariums agieren kann, das sie befähigt, angemessene und ggf. maximale Kompetenzen und Ressourcen zu mobilisieren. Ein geeignetes Instrumentarium könnte beispielsweise eine Software sein, die es den Leitstellendisponenten ermöglicht, Informationen von der Unfallstelle bis hin zu Kapazitätsabfragen in Krankenhäusern einzuholen.

Neben den medizinischen und technischen Ressourcen vor Ort ist die Sicherung der Unfallstelle und die Verkehrsregelung Voraussetzung für eine sichere Traumaversorgung. Eine inadäquate Triagierung, unvollständige Erhebung des Zustands oder unzureichende Versorgung der Unfallverletzten können zu verlängerten Transportwegen oder der Notwendigkeit von Sekundärverlegungen führen, bis die Unfallverletzten der adäquaten klinischen Ressource zugeführt werden. Daraus resultieren verlängerte Versorgungszeiten, bis die oft lebensrettenden Therapien eingeleitet werden können, sowie zusätzliche Kosten.

Die Hilfsfrist, die als Gütekriterium im Rettungsdienst herangezogen wird, ist für die rasche Versorgung der Unfallverletzten zwar wichtig, jedoch nicht alleine entscheidend. Von wesentlicher Bedeutung ist auch die Qualität der Versorgung von Beginn an. Dazu gehören neben einer notärztlichen Versorgung die entsprechenden hochwertigen technischen Ressourcen vor Ort, damit die Verletzten schnell, sicher und schonend zu dem aufgrund des Verletzungsmusters als geeignet eingestuften zertifizierten Traumazentrum luft- oder bodengebunden transportiert werden können. Da an der Versorgung eines lebensbedrohlich Schwerverletzten in den ersten 24 Stunden bis zu 120 Personen beteiligt sind4,5, ist die initiale zielgerichtete Arzt-Arzt-Kommunikation von der Unfallstelle in die Zielklinik essenziell, um überlebensentscheidende Informationen effizient und umfassend übermitteln zu können. Neben der Kapazitätsabfrage dient dabei die direkte Kommunikation mit dem Traumaleader des Zielkrankenhauses der innerklinischen Ressourcenmobilisation (interdisziplinäres Traumateam, Intensivkapazität, OP-Verfügbarkeit, Vorhaltung von Blutkonserven etc.). Entsprechend der Schädigungsintensität und des Verletzungsmusters muss eine klinische Therapie in der medizinisch erforderlichen Zeit erreicht werden.6 Die Zielklinik muss über eine hohe Qualität der Traumaversorgung verfügen und sich an den spezifischen Verletzungsmustern von Unfallverletzten orientieren.7,8 Ein längerer Transport kann unter Umständen zu Gunsten der individuellen und spezifischen Versorgungsressource in Kauf genommen werden, wenn ein sicherer, notärztlich begleiteter Transport gewährleistet ist. Die Ausrichtung an wirtschaftlichen Interessen des Rettungsdienstes und des Zielkrankenhauses darf in der Traumaversorgung keine Rolle spielen.

Die Wiederherstellung der Lebensqualität von Unfallopfern ist eine langfristige Aufgabe. Diese beginnt bereits mit der Erstversorgung am Unfallort und erstreckt sich weiter von der Auswahl der richtigen Zielklinik über die adäquate klinische Versorgung bis hin zur Rehabilitation und Wiedereingliederung in ein Berufsleben und ein soziales Netzwerk. Damit nehmen bereits die präklinische Organisation und die Qualität der Versorgung entscheidend Einfluss auf das Langzeit-Outcome der Verletzten und bestimmen neben dem individuellen Leidensweg auch die sozioökonomischen Folgen, die bei jährlich rund 66.500 schwer verletzten Unfallopfern,9 davon ca. 15.00010 mit schwersten Verletzungen, gesamtgesellschaftlich relevant sind.

gez.
Prof. Dr. Walter Eichendorf
Präsident


1 World Health Organization, The Global Burden of Disease: 2004 Update, World Health Organization, Geneva, Switzerland, 2008
2 WHO, Global Status Report on Road Safety, 2018
3 BMVI: Unfallverhütungsbericht 2016/17
4 Lovell et al. (2001) Intrahospital transport of critically ill patients. Anaesth Intensive Care 29:400-409
5 Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie DGU: Allg. Daten zur Schwerverletztenversorgung in Deutschland des TraumaRegister® der DGU, Jahresbericht 2001
6 Eckpunktepapier 2016 zur notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung in der Prähospitalphase und in der Klinik. https://www.uni-kiel.de/anaesthesie/docs/RD/Eckpunktepapier_2016_1.pdf
7 Weißbuch Schwerverletzten-Versorgung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie - Empfehlungen zur Struktur, Organisation und Ausstattung stationärer Einrichtungen zur Schwerverletzten-Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland., 2006
8 S3-Leitlinie Polytrauma / Schwerverletzten-Behandlung, Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie, 2017 (AWMF Register-Nr: 012/019)
9 Destatis: Verkehrsunfälle, Fachserie 8, Reihe 7. Schwerverletzte sind in der amtlichen Unfallstatistik Unfallopfer, die mindestens 24 Stunden stationär aufgenommen werden und nicht innerhalb von 30 Tagen versterben.
10 K. Auerbach u.a.: Schwerstverletzte Straßenverkehrsunfallopfer in Deutschland. Zeitschrift für Verkehrssicherheit 1.2018. Schwerstverletzte sind Unfallopfer, die einen medizinischen Verletzungsgrad von MAIS 3+ bzw. AIS≥16 aufweisen